»So darf es nicht weitergehen, sonst geht es nicht weiter.«
Hinter dem Lärm derjenigen, die die Verarbeitung der furchtbaren Wahlniederlage vom 26.9.2021 nach dem Schema »Deine Strömung und Deine Galionsfigur sind schuld« oder »Nein, Deine Strömung und die Gegner:innen meiner Galionsfigur sind schuld« betreiben, gibt es ein breites Feld von Nachdenklichen, Kritischen und Selbstkritischen, die – wie auch wir – auf Scharmützel nach abgestandenen Mustern keine Lust haben. Worauf wir Lust haben, woran wir glauben und wofür wir uns mit Kopf, Herz und Leidenschaft engagieren wollen, ist eine LINKE auf der Höhe der Zeit. Wir sind nicht bereit, DIE LINKE aufzugeben und mit ihr die Chance auf einen tiefgehenden demokratischen, sozialen und ökologischen Wandel in diesem Land und in Europa. Will DIE LINKE dorthin finden, muss sie sich neu erfinden, so viel ist sicher.
Was hier folgt, ist kein Katalog fertiger Antworten – ganz im Gegenteil. Es ist eine Einladung zum kulturvollen und sachlichen Austausch. Wir denken: Viele Kräfte, Ideen, Inspirationen, Dialoge, Diskussionen und, ja, auch Kontroversen, die für eine LINKE des 21. Jahrhunderts gefunden, formuliert und ausgetragen werden müssen, stecken bereits in unserer Partei. Das Potenzial ist da. Doch wir werden es kaum auf Parteitagen finden, auf denen einzelne Gruppen und Zusammenschlüsse ihre Kandidat:innen durchbringen müssen oder auf sogenannten Strategiekonferenzen, bei denen sich die Anwesenden nur ihrer bekannten Glaubenssätze vergewissern. Wir wollen die Teufelskreise der Selbstbeschäftigung, des sterilen Streits um immer dieselben Personen, Schlagworte und Phrasen aufbrechen. Neben Genossinnen und Genossen von allen Ebenen und aus allen Ecken der Partei – von der Bezirksvertretung bis zum Europäischen Parlament, vom Kreistag bis zur Denkfabrik, vom Aktivist:innen-KoKreis bis zum Bundestag, vom Gewerkschaftsbezirk bis zum Frauenkollektiv, von Selfkant bis Görlitz, von List bis Oberstdorf – wollen wir die so wichtigen Stimmen von sozial Bewegten, Intellektuellen und Wissenschaftler:innen an einen Tisch holen.
Wir brauchen die Stimmen und die Weisheit der Vielen von drinnen und draußen, um den lähmenden Nebel der Ratlosigkeit in erfrischende Klarheit zu verwandeln, wie DIE LINKE sich heute aufstellen muss, ob und wie sie zu einer politisch wirksamen Kraft werden kann, der die Menschen ihre Stimme anvertrauen, die sie zur Wahl empfehlen und in die sie gar ihre Lebenszeit, Energie und Kreativität einbringen. Auf einem Ratschlag Anfang 2022 wollen wir den Aufschlag wagen, diesen Prozess zu organisieren. Dazu möchten wir zu Beiträgen einladen und nach vorne gerichtete, auf Ergebnisse orientierte Diskussionen führen anhand der nachfolgenden Punkte.
Programmatische Knackpunkte
Zu den zähesten und zugleich dringlichsten Problemen der Partei gehören Unklarheit und unterschiedliche, meistens unvermittelt und ohne Dialog nebeneinander existierende Auffassungen darüber, was denn im Kern DIE LINKE ausmachen soll, was sie von den anderen Parteien unterscheidet – in der Tagespolitik wie in der grundsätzlichen Perspektive einer weitreichenden Gesellschaftsveränderung. Das Problem hat mehrere Facetten. Unser Grundsatzprogramm hat für viele politische Alltagsaufgaben in der heutigen Zeit keinen Informationswert. Es ist nicht für konkrete Handlungsebenen und unmittelbare Problemlösungsanforderungen geschrieben. Es vermittelt entscheidende Verständigungen aus der Entstehungszeit der LINKEN. Doch heute sind die Hochphasen der neoliberalen Offensive, der entdemokratisierenden Alternativlosigkeit, der militärischen Interventionen des Westens unter der Tarnkappe der Humanität und die fast allseitige Ausgrenzung linker Politik vorbei. Gesellschaftlicher Protest wird von Rechtsradikalen okkupiert, und die Lücke einer produktiven Verständigung über ein gerechtes und solidarisches Zusammenleben, über die Widersprüche von Schein und Sein einer sozial-ökologischen Transformation scheint so groß geworden, dass DIE LINKE darin zu versinken droht. Die heutige Zeit braucht aber heutige Antworten – etwa darüber, wie die verbliebenen neoliberalen Zwangsjacken wie die Schuldenbremse überwunden oder umgangen werden können; wie die deutsche Einwanderungsgesellschaft von links gestaltet werden kann; wie wir die übermächtigen digitalen Monopole regulieren, aufbrechen oder sozialisieren; wie die emanzipatorischen Potenziale heutiger Technik, neuer Lebensweisen und wirtschaftlicher Kooperationsformen in einen demokratischen Sozialismus eingebracht werden können, der selbst als Mut machende Teilhabe und einladende Produktion statt als ›neue Ordnung‹ verstanden wird. Wir brauchen keine allmächtigen Glaubenssätze, sondern sinnstiftende Grundsätze, die wir mit praktischen Ansatzpunkten in konkrete Praxis übersetzen können – damit wir Schwerpunkte bilden können, ohne uns Scheuklappen aufzusetzen; damit wir Prioritäten setzen können, ohne Zombie-Debatten von Haupt- und Nebenwidersprüchen zu beschwören; damit wir Bündnisse schließen und, wo nötig, Kompromisse eingehen können, ohne uns zu vergessen. Wir fragen Euch, wir fragen weit über DIE LINKE hinaus: Wie kann das aussehen?
Partei(re)form
Können wir eine Partei werden, in der nicht alle nur ihren Schrebergarten bestellen, aber auch kein allmächtiges ZK von oben die Mitglieder mit der Wahrheit beglückt? In den vergangenen Jahren haben sich berechtigter Frust und Unmut darüber aufgestaut, wie wir (nicht) zusammenarbeiten. Wir schlagen vor, über geeignete Formen einer sozialistischen Partei in der Gegenwart zu sprechen, aber nicht als Nabelschau oder Kampf zwischen Schützengräben. Vielmehr müssen wir offen und ehrlich die Spannungsfelder (er)kennen und konfrontieren, die einer Partei mit transformatorischen Zielen in dieser Gesellschaft unvermeidlich begegnen, und an denen sie gefährlich leicht zerbrechen kann. So soll DIE LINKE keine reine Funktionärspartei und kein Wahlverein sein, dem es vor allem um den eigenen Strukturerhalt geht. Sie muss ihre Pluralität bei Ehren- und Hauptamtlichen abbilden, darf aber auch nicht zum Versorgungswerk verkommen, in dem Claims und Posten nach Strömungsloyalität abgesteckt und verteilt werden. DIE LINKE darf das Ziel nicht aufgeben, den bislang Inaktiven, Zurückgezogenen und Unterrepräsentierten zu einer politisch hörbaren Stimme zu verhelfen. Sie muss diese zugleich mit denjenigen zusammenbringen, die es selbst ganz gut haben und die wollen, dass es anderen auch besser geht, weil ohne diese solidarisch Gesinnten keine gesellschaftsverändernden Mehrheiten möglich sind. In der LINKEN müssen zugleich erfahrene und neue Aktivist:innen, alte und junge Genoss:innen zusammenfinden, die sich – von ganz unterschiedlichen politischen Prägungen in Stadt und Land ausgehend – engagieren. Die Partei muss die Kraft und das Können für kurzfristige, punktuelle Mobilisierungen, aber auch für den langen Atem in den Mühen der Ebene aufbringen, und es müssen alle verstehen, dass wir beides benötigen. Konzept-Tüftler:innen, hinter den Kulissen umtriebige Bündnis-Architekt:innen, Volkstribune, emsige Kärner-Arbeiter:innen – wir brauchen Euch doch alle! DIE LINKE muss einen Umgang damit finden, dass sie einerseits die aktive Mitgliedschaft an der Basis braucht wie Menschen die Luft zum Atmen, andererseits aber das Bild, ja das sprichwörtliche ›Image‹ und damit viel vom Wohl und Wehe der LINKEN unausweichlich geprägt wird von den Leitfiguren, die in Massenmedien und sozialen Medien abgebildet werden und zu Wort kommen. Weil es nicht ohne die Galionsfiguren geht, die Mitglieder deren Treiben aber nicht hilflos ausgeliefert sein wollen, benötigen wir geeignete Formen der Absprache und Klarheit darüber, was wir eigentlich voneinander erwarten und was wir uns schuldig sind. Die Partei muss sich anders begegnen, als wirklicher kooperativer Zusammenhang, nicht nur auf den Parteitagen zum Beklatschen schöner Reden, versteckt hinter meterhohen Antragsbüchern. Papier ist geduldig, die gesellschaftlichen Verhältnisse sind es nicht. Wir fragen Euch, wir fragen weit über DIE LNKE hinaus: Wie kann und soll eine Partei aussehen, die einlädt, begeistert, einfängt, unterstützt, anspornt, Mut macht?
Strategiedefizit
Strategie ist das Schwierige, das nicht einfach zu machen ist. Eine linke Partei kann sich für einzelne Vorhaben der Methoden von Bewegungen und Gewerkschaften bedienen wie ›Organizing‹ und Kampagnen-Arbeit. Aber eine Partei kann nicht schlechthin eine Kampagnen-Maschine sein. DIE LINKE wird die ›bürgerlichen‹ Trennungen von Politik und Ökonomie, von Privatsphäre und Öffentlichkeit nicht überwinden, indem sie eine Methode aus einem dieser Bereiche auf den anderen überträgt, und seien sie am Anfang noch so erfolgreich. Es ist von gestern, wenn sich Genoss:innen danach sortieren, entweder ›Regierungssozialist:innen‹ oder ›Antikapitalist:innen‹, entweder ›Bewegungslinke‹ oder ›gewerkschaftlich Orientierte‹ zu sein. Strategie heißt, vom Ende her und in gewisser Weise auch in mehreren Optionen zu denken. Und am Ende des Tages geht es immer darum, das geeignete Vorgehen auszuwählen, um möglichst viele von den gesetzten eigenen Zielen zu erreichen. Das Vorgehen muss sich am Sachthema festmachen – um Licht auf ansonsten obskure Handelsverträge zu werfen und komplizierte Regulierungen von Digitalkonzernen durchzubringen, braucht es ein anderes Vorgehen als beim Kampf gegen Arbeitsplatzabbau, für niedrigere Kita-Beiträge, für Tarifverträge in der Pflege oder gegen hohe Mieten. Das Vorgehen muss sich am jeweiligen Gegner, an möglichen Verbündeten und am ›Publikum‹ festmachen, denn es ist ein Unterschied, ob man in ›direkter Aktion‹ gegen den Klassenfeind streitet oder die Öffentlichkeit des Stadtteils, des Bundeslandes oder gar der Bundesrepublik insgesamt als Schwungmasse gegen herrschende Interessen und Politik gewinnen will. Das Vorgehen muss sich schließlich an den Kapazitäten festmachen. Im Idealfall wird eine Kampagne zum Selbstläufer und zieht neue Leute in die Partei, aber selbst dann muss DIE LINKE mit ihren Kräften gut haushalten, weil bedauerlich viele Themen von der Gegenseite durch Aussitzen, Tricks und Ablenkungsmanöver sabotiert werden. Eine linke Arbeit der Zuspitzung ist immer auch eine kluge Zweck-Mittel-Zeit-Relation. Deswegen fragen wir Euch, fragen weit über DIE LINKE hinaus: Welche Strategie verspricht Erfolg, um linken Anliegen Gehör zu verschaffen und sie zur Durchsetzung zu führen?
Wahlen gewinnen
Wir müssen uns ehrlich machen: Wenn wir zu Parteitagen zusammentreten, wenn wir in der Kneipe, im Freundeskreis oder mit Verbündeten sprechen, werben wir für unsere Forderungen. Es ist richtig und wichtig, dass wir so für linke Inhalte wirken. Doch es gibt eine Vorbedingung, damit diese Anliegen wirklich werden können. Diese Vorbedingung ist unvermeidlich, absolut und unüberwindbar: Es die Bedingung, dass DIE LINKE absehbar wieder Wahlen gewinnt oder zumindest deutlich hinzugewinnt. Es gibt keinen realistischen Pfad zu fortschrittlicher Reform, zu linkem Aufbruch und sozialistischer Transformation, ohne diese Voraussetzung zu erfüllen. Sprechen wir das aus, wird von irgendwo in der Partei sofort, mit dem Reflex des Pawlowschen Hundes, der Vorwurf des Verrats, der Kompromittierung, des vorauseilenden Kniefalls vor bürgerlichen Maßstäben, bürgerlicher Presse und bürgerlichen Parteien erschallen. Kein Irrtum könnte größer sein. Es geht nicht darum, unsere Werte zu opfern, den Antikapitalismus, den Sozialismus oder andere Prinzipien aufzugeben. Es geht um die unerbittliche Voraussetzung, zu gewinnen und dafür eine Wähler:innenschaft verstehen zu müssen, die uns gegenüber gleichgültig, skeptisch oder ablehnend eingestellt ist. Es geht darum, die Menschen überzeugen zu können. Sie müssen uns wahrhaft glauben, dass unser Idealismus keine Spinnerei, unser Ehrgeiz kein Wahn und unser Realismus kein Opportunismus ist. Die Leute müssen uns zutrauen können, immer für das Richtige zu streiten, anknüpfend an ihren wirklichen Interessen, aber auch immer das Bestmögliche herauszuholen, wenn mehr nicht möglich ist. Wir alle müssen selbstkritisch anerkennen, dass wir mitnichten gut genug darin waren und sind, unsere Themen zu ›setzen‹ und unsere Antworten auf wichtige Gegenwartsfragen nahezubringen. Vielleicht stellen wir auch gar nicht die richtigen Fragen, oder wir stellen sie nicht richtig. Wir fragen Euch, wir fragen weit über DIE LINKE hinaus: Wie kann DIE LINKE eine Partei werden, von deren Wahl man sich wirklich etwas verspricht?
Wer noch lebt, sage nicht: niemals!
Das Sichere ist nicht sicher.
So, wie es ist, bleibt es nicht. (...)
Wer seine Lage erkannt hat, wie soll der aufzuhalten sein?
-Bertolt Brecht, Lob der Dialektik