Wen es auch immer interessiert.

Udo Wolf, Berlin


Einige persönliche Bemerkungen und Hinweise vor dem Bundesparteitag in Erfurt 2022

Auf dem Erfurter Parteitag werde ich nicht als Delegierter vertreten sein. Der Bezirksverband Pankow hat das Glück jüngere und weniger erschöpfte Mitglieder zu haben, die diese Aufgabe übernehmen wollen. Dennoch will ich gerne denjenigen, die es interessiert, ein paar Gedanken mit auf den Weg geben, was aus meiner Sicht auf diesem Parteitag wichtig wäre.
Ich habe mit einigen anderen noch relativ kurz vor dem Rücktritt von Susanne Hennig-Wellsow einen Text geschrieben in der Hoffnung, er möge die Erneuerungsbemühungen von Susanne und einer Minderheit im derzeitigen Parteivorstand unterstützen. Hier kann er nachgelesen werden: derlinkeratschlag.de/debatte_08.html.
Ich finde den Text immer noch gut, die inhaltliche und strategische Herausforderung hinreichend beschrieben, auch wenn die Bedingungen für den ersten Schritt seitdem nicht besser wurden. Zudem kann ich den Text von Horst Kahrs und Klaus Lederer www.blaetter.de/ausgabe/2022/juni/ueberzeugung-statt-empoerung nur empfehlen. Ich teile den Inhalt uneingeschränkt und verstehe ihn außerdem als das theoretisch und inhaltlich am klügsten abgeleitete Gegenmodell zum Sozialdemokratismus von Wagenknecht und Lafontaine sowie dem „Formelkompromismus“ der letzten Jahre. Der Aufruf für eine populäre LINKE hingegen ist inhaltlich, methodisch und politisch-kulturell wenig mehr als ein Aufguss der gescheiterten „Aufstehen“-Initiative, die ironischerweise das innerparteiliche Hufeisen verhöhnt und gleichzeitig in der Bundestagsfraktion stabilisiert hat. Eigentlich macht mich dieser Aufruf und der Apparate-Intrigantenstadl nur noch müde. Gleichwohl hat die Geschichte gezeigt, dass solcher Unsinn auf Parteitagen mehrheitsfähig werden kann. Sollte das so sein, wäre ein weiterer, vielleicht letzter Sargnagel für DIE LINKE eingeschlagen.

Die Krise der Partei DIE LINKE ist unübersehbar. Ich persönlich kenne keine Statistik, wie viele Menschen aus welchen Gründen die Partei seit den verlorenen Bundestagswahlen verlassen haben. Aber es sind immerhin so viele, dass auf social media viele Menschen aus der Partei hilflose Parolen verbreiten, eine linke Partei würde aber dringend gebraucht. Religiöse Bekenntnisse wie diese, für die Karl Marx vermutlich nur beißenden Spott übrig gehabt hätte, sind üblicherweise der schärfste Ausdruck einer drohenden politischen Bedeutungslosigkeit sowie der letzte Übergang zum Stadium einer Sekte. Wenn Beschwörungsformeln helfen würden, hätten wir die Bundestagswahlen gewonnen. Die Menschen aus dem jetzt erneut (nicht wirklich neu) festgestellten Potential von ca. 18 % LINKEN-Wähler*innen sehen das offensichtlich nicht so, zumindest wesentlich differenzierter. Ein Blick auf das Berliner Wahlergebnis legt den Schluss nahe, dass das „Potential“ zu großen Teilen eine Bundestagsfraktion, wie wir sie in den vergangenen vier Jahren hatten, für entbehrlich hält. Während dasselbe „Potential“ der Landespartei das fast gleiche Ergebnis in absoluten Stimmen zur Abgeordnetenhaus-Wahl spendiert, bei den Kommunalwahlen in einigen Bezirken sogar leicht bessere als fünf Jahre zuvor – das wohlgemerkt am selben Tag. Das mag ein Hinweis sein, dass auch links-denkende, links-fühlende oder sonst irgendwie links-affine Menschen Parteien wählen, wenn diese eine glaubwürdige Funktion für sie in und für die Gesellschaft erfüllen können.

Ich habe mich als Direktkandidat für die Bundestagswahlen im Bezirk Pankow nach der krachenden Niederlage bislang gescheut, in die öffentliche Debatte zur Krise der Partei zu begeben. Das Ausmaß der (auch) persönlichen Niederlage war zu groß, als dass ich mich getraut hätte, in einem anderen Rahmen zu sprechen als in meinem Bezirksverband und im Kreise engster politischer Freund*innen. Ich habe mich intensiv mit den Zahlen, Wahlauswertungen, meiner eigenen Hybris, meinen eigenen Wahlkampffehlern und des rapiden Niedergangs meiner eigenen politischen Reputation in der Partei auseinandergesetzt. Währenddessen, mit meinen Zweifeln befasst, nahm ich zur Kenntnis, dass zumindest die Mehrheit der neuen Bundestagsfraktion keinen Anlass zur Selbstkritik, zur Änderung ihres Handelns sah. Die alte Fraktionsspitze wurde bestätigt, die Wahlniederlage zum „Problem- anderer-Leute-Feld“ (vgl. Douglas Adams: Per Anhalter durch die Galaxis) erklärt und ein paar wenige dürre Floskeln zur Rückbesinnung auf den „Markenkern soziale Gerechtigkeit“ aufgeschrieben. Dass an sich ist schon ein bemerkenswerter Vorgang, der doch nur eins nach innen und außen ausstrahlt: Das alte und neue Personal ist im Zweifel lieber Chef in einer Sekte als „nur einfaches“ Mitglied in einer gesellschaftlich einflussreichen Partei. Das Mandat wird zur Beute.
Anders vermag ich mir nicht zu erklären, dass nicht einmal nach der Bundestagswahl in der neuen Bundestagsfraktion (die in großen Teilen identisch mit der alten ist) das Desaster rund um die Enthaltung der LINKEN zur Ortskräfte-Evakuierung aus Afghanistan diskutiert wurde. An welcher Stelle wurde vor der Fraktionsvorstandswahl die Verantwortung der Spitzenkandidat*innen für das kommunikative Versagen in dieser politisch so entscheidenden Frage thematisiert? Was war über das Beschwören des vermeintlichen „Markenkerns“ (schreckliches Wort als Ersatz für politische Strategie und Programm) die Idee, mit der diese Bundestagsfraktion die nächste Bundestagswahl erfolgreicher gestalten könnte?
Und das war gewissermaßen nur das Vorspiel zur Auslösung der Selbstzerstörungssequenz in der LINKEN, die durch den russischen Überfall auf die Ukraine auf die Tagesordnung des Erfurter Parteitages gesetzt wurde. Die Unfähigkeit mit dieser neuen Situation, die nicht nur die Putin-Freunde, sondern auch die Putin-Kritiker, SPD, große Teile der Grünen, selbst viele NATO-Funktionäre überrascht hat, was Ausmaß und Rücksichtslosigkeit der Aggression angeht, einigermaßen politisch glaubwürdig umzugehen, hat ja nachträglich die ehemaligen LINKEN-Wähler*innen bestätigt. Hätte das Hufeisen die politische Kultur des inhaltslosen Formelkompromisses nicht zur höchsten Kunstform innerparteilicher Erstarrung erhoben, wären möglicherweise - die Bereitschaft zu personellen Konsequenzen - vorausgesetzt, ein paar politische Klärungen möglich gewesen. Paul Schäfer, Konstanze Kriese, Wulf Gallert u.a. haben dazu inhaltliche Vorschläge unterbreitet. Leider brachte der Parteivorstand in seiner Mehrheit den Mut zur Klärung nicht auf.

Schlimmer noch, alle Versuche, wie z.B. von Susanne Hennig-Wellsow vor ihrem Rücktritt und einigen wenigen Anderen, die Fragen zu diskutieren, wie es zu dieser Wahlniederlage, diesem Verlust an politischer Glaubwürdigkeit kommen konnte, wurden verschleppt und blockiert. Genauso wie der Versuch über das wohlfeile und folgenlose Bekenntnis zur Verurteilung des russischen Angriffskrieges hinaus zumindest einen politisch glaubwürdigen Umgang zu diskutieren. Der Gestus, „keine Fehlerdiskussion“, „Einheit vor Klarheit“, betonierte in der Bundestagsfraktion das Hufeisen „light“.
Gerechterweise muss aber gesagt werden - und das ist leider überaus unerfreulich - war aber eben die Angst im Parteivorstand und da nicht nur von den Freund*innen des Hufeisens, sondern auch von Janine Wissler, Jörg Schindler und Teilen der „Bewegungslinken“ vor allzu viel politischer Klärung vorherrschend. An die Stelle des Aufbruchs, der Aufklärung und politischen Erneuerung traten Durchhalteparolen, Bekenntnisse, dass wir schon eine tolles Wahlprogramm hatten und die Medien (insbesondere „Der Spiegel) eine Kampagne zur Zerstörung der Partei machen würden. Es sind immer die Anderen schuld. Manchmal mag das stimmen, aber es rettet einen nicht. Der eigene Anteil an der Unfähigkeit zur Klärung, Selbstreflektion und Korrektur – der Umgang mit den eigenen Fehler sind das Spannende.

Gleichwohl gab es eine Reihe, wie ich finde, kluger und politisch interessanter Beiträge und Initiativen, die das Potential hätten, den ehemaligen LINKEN-Wähler*innen und dem „Potential“ zu signalisieren, dass DIE LINKE einen Gebrauchswert als Bundespartei für sie und die Gesellschaft haben könnte (derlinkeratschlag.de/debatte, www.inititiative-solidarische-linke.de). Dafür bräuchte es aber die in diesen Texten und Initiativen angesprochenen inhaltlichen und strategischen Erneuerungen und das Personal, dass sie trägt. Ich befürchte nur, dass der Prozess in der Minderheit beginnt und die Chance auf eine Mehrheit noch weit entfernt ist.

Derweil treten Menschen aus, die als Reformer*innen, Erneuerer*innen den Weg von der autoritären Staatspartei SED zur demokratisch-sozialistischen PDS im demokratischen Parteiensystem der Bundesrepublik aktiv, inhaltlich und strukturell geprägt haben. Sie haben nicht wenige schwere politische Krisen der Linken insgesamt und der parteipolitisch organisierten im Besonderen überstanden. Über die notwendige Geschichtsdiskussion Anfang bis über die Mitte der Neunzigerjahre, die Debatte zu Partei, Bewegung und das Verhältnis zum parlamentarischen System in der Bundesrepublik, Opponieren, Tolerieren und Koalieren – also die Regierungsfrage, verging das erste Jahrzehnt der PDS mit viel Debatte und deutlich mehr Mitgliederverlusten als Gewinnen. So schmerzhaft das damals war. Dieser Prozess war notwendig, er begann aus einer Minderheitsposition und ohne diesen Prozess hätte die damalige PDS wahrscheinlich keine drei Jahre überlebt.

Diese Mitglieder haben die Niederlage bei der Bundestagswahl 2002 und den anschließenden Geraer Parteitag er- und überlebt. Nicht wenige haben sich damals die Frage gestellt, ob es angesichts der fürchterlichen politischen Kultur, die in Gera gewann, weiter Sinn macht in und für die Partei zu kämpfen. Mit der Rückkehr von Lothar Bisky, der Diskussion um Strategie und Funktion der PDS, dem Potsdamer Parteitagsbeschluß mit dem berühmten „strategischen Dreieck“ hat sich die Partei wieder einem gesellschaftlichen Gebrauchswert verpflichtet.
Die Fusion mit der WASG, die das Versprechen einer bundesweiten Partei, die stabil über 5 % kommt, beinhaltete, war mit vielen politischen, politisch-kulturellen und organisationspolitischen Zumutungen und Demütigungen einhergegangen. Es verging keine Woche, ohne das Oskar Lafontaine die PDS-Genoss*innen examinierte, was der einzig wahre und richtige (sozialdemokratische) Weg sei. Die roten Haltelinien wurden erfunden, die für alle gelten sollten, es sei denn Oskar oder seine Getreuen beschlossen, sie zu überschreiten. Und dennoch konnten Oskar Lafontaine oder Sahra Wagenknecht nicht die Parteitage für ihre reaktionären Positionen zur Flüchtlings- und Migrationspolitik gewinnen. Aber nicht inhaltliche Klärung, sondern die Apparate-Logik prinzipienloser Personen-Bündnisse bestimmten die Bewegungsformen der Partei.

Wenn Mitglieder, die über 30 Jahre diese wechselhafte Geschichte der Partei ertragen und letztlich auch getragen haben, jetzt austreten, ist das für mich persönlich außerordentlich schmerzhaft und traurig. Aber ich kann es verstehen.
Die Frage steht für Viele, mich eingeschlossen: Lohnt es noch einmal die Auseinandersetzung zu führen? Sind Aufwand und Nutzen, von kurzfristigen Erfolgsaussichten will ich gar nicht reden, noch in einem persönlich aushaltbaren Verhältnis?
Im Unterschied zu vielen Freund*innen und Genoss*innen, die jetzt ausgetreten sind oder austreten, sehe ich auch noch einen Sinn (und oder bin noch nicht zu erschöpft) darin, als demokratischer Sozialist auch für absehbare Zeit in der Minderheit in der LINKEN (Bundespartei) zu arbeiten. Noch. Allerdings habe ich auch das Glück, mit meinen Positionen in meinem Bezirksverband in der Mehrheit zu sein. Aber nichts ist von Dauer. Es wird sich im Verlauf des nächsten halben Jahres entscheiden, ob die Partei DIE LINKE zu einer erneuten Kraftanstrengung, einer intellektuell halbwegs redlichen inhaltlichen, strategischen und personellen Erneuerung fähig sein wird.

Die Themen, die ein künftiger Parteivorstand zu verhandeln und zu entscheiden hat, sind eigentlich Allen klar. Der Versuch wieder alles mit Appellen an die Einheit und Geschlossenheit der Partei in Formelkompromisse zu verschieben, wäre tödlich. Es wäre erneut der Beweis, dass die Partei und ihre Funktionäre nur sich selbst wichtig sind. Dabei ist klar, dass es Positionen gibt, die miteinander nicht kompatibel sind. Nationalismus, Antisemitismus, Rassismus, Homophobie, Abschottung vor Flucht und Migration, Diskriminierung, das Gerede von Haupt- und Nebenwidersprüchen, die Relativierung der Verletzung von Menschenrechten - je nachdem wer Täter ist, die Diffamierung von Diversität und Gleichberechtigung als „Genderwahn“ oder „skurrile Minderheiten“ sind mit einem Sozialismusverständnis, das sich der Erkämpfung der Menschenrechte, der Solidarität, Freiheit und Gleichheit verpflichtet fühlt, auf Dauer unvereinbar. Der Spagat zwischen unvereinbaren Positionen wird die Partei auf Dauer unwählbar machen.
Deshalb bin ich der Überzeugung, dass der in Erfurt zu wählende neue Parteivorstand nur ein Übergangs-Vorstand sein kann, der nur eine Aufgabe hat: Zu klären, was die inhaltliche und strategische Aufgabenstellung der LINKEN ist. Das ist aus meiner Sicht die notwendige Voraussetzung, um in einem nächsten Schritt neues Personal auf einer inhaltlichen Grundlage zu wählen und zu profilieren. Leider wird vor innerparteilichen Wahlen selten die Methode, die Herstellung von Vertrauen in politische Handlungsfähigkeit durch Verfahren, ernst genommen. Kaum bringen sich ein paar Menschen für Vorsitz, Geschäftsführung oder andere Funktionen ins Gespräch – oder es werden Namen gehandelt, spielen Inhalte kaum noch eine Rolle. Die Freundeskreise der Kandidierenden scharen sich Warlords gleich um das eigene Fähnlein auf social media.

Wenn ich denn wählen müsste, würde ich die Kandidatinnen und Kandidaten für Vorsitz, Geschäftsführung, aber auch alle anderen Kandidat*innen befragen: Welche Position habt ihr bei der verheerenden Enthaltungsentscheidung von Fraktion und Parteivorstand bei der Abstimmung zur Evakuierung der Ortskräfte aud Afghanistan eingenommen? Denn aus meiner Sicht ist nur die Aufarbeitung dieses Vorgangs ein möglicher Garant dafür, dass so ein Desaster in Zukunft verhindert werden kann. Dieser Vorgang ist zudem symptomatisch für die sektiererische Selbstbezogenheit, in der innerparteiliche Hybris der gefühlten Prinzipienfestigkeit, die Sucht nach schlichter Alleinstellung höher gewichtet wird als Menschenrechte und Menschenleben.

Wer diese Abstimmungsentscheidung auch heute noch richtig findet, ist für mich nicht wählbar.
Ich würde zudem fragen, wie und in welchem Zeitraum der künftige Parteivorstand die inhaltlichen und strategischen Klärungen herbeiführen möchte. Wer darauf antwortet, unsere Programme seien schon die Besten, wir sollten damit die Ampel vor uns hertreiben - wer antwortet, wir sollten uns auf Markenkerne und Alleinstellungsmerkmale konzentrieren, Campaigning und Organizing machen, die oder den würde ich nicht wählen. Das ist das oberflächliche Gerede, bei dem Mitgliedergewinnung und Mitgliederpflege zu (nicht einmal revolutionärem) Attentismus führt, in der Konsequenz als Politik-Ersatz.
Politik der LINKEN wird, wenn überhaupt, aktuell nur auf Länder- und Kommunalebene gemacht. Dort haben wir an verschiedenen Stellen eine für die Menschen nachvollziehbare positive Funktion in und für die Gesellschaft. (Sofern wir nicht glauben, linke Politik bestünde daraus, auf öffentlichen Plätzen auf Apfelsinenkisten zu steigen und mit Megafonen Leute anzuschreien, dass ihr Leben scheiße ist und sie es falsch leben). Auf Bundesebene haben wir so lange keine positive, politisch nachvollziehbare Funktion für nicht einmal ein Viertel des „Potentials“, wie wir inhaltlich und strategisch im Spagat bewegungslos bleiben. Aber das ließe sich ja ändern.

Um mit einer Floskel zu enden, die selten wahrer war: „Ein Weiter-so darf es nicht geben“.

05.06.2022