Kann und sollte die LINKE überleben?

Alban Werner


The crisis continues to be ›read‹ by the Left from within certain well-entrenched and respectable ›common-sense‹ positions. Many of these no longer provide an adequate analytic or theoretical framework: the politics which flow from them thus continue to fall far short of their aim.« (Stuart Hall, 1979)

Inzwischen ist die Frage unvermeidlich, ob die LINKE als eigenständige und relevante politische Formation überleben wird. Eigenständig meint, dass ihre Mitglieder und Wähler nicht von anderen Parteien abgeworben werden oder die LINKE gar mit einer anderen Partei verschmilzt. Relevant sind Bewegungen und Parteien, wenn sie entweder ein Drohpotential einsetzen können oder als Bündnispartnerinnen in Frage kommen, und sei es als ›Zünglein an der Waage‹. Davon kaum zu trennen ist die Frage, ob die LINKE auch überleben sollte. Kein geringerer als Oskar Lafontaine unterstrich dies in der Frühphase der Partei, etwa beim Gründungsparteitag im Juni 2007:

»Organisationen, Gewerkschaften, Parteien – sie sind niemals Selbstzweck. Sie sind immer nur Mittel zum Zweck, den Menschen eine Stimme zu geben, die nicht mächtig sind, die sich zusammenschließen müssen, die nur zusammen etwas erreichen können.«

Parteien überleben nur dann, wenn sie in den Augen einer ausreichenden Zahl von Leuten einen wichtigen Zweck erfüllen. Ist dies nicht mehr der Fall, werden sie allenfalls noch durch Gewohnheiten und vorpolitische Loyalitäten am Leben gehalten, letztlich sind sie dann aber nur noch politische Zombies.

Allerdings können sich Parteien auch neu erfinden. Eine dem untoten Zustand nahe Formation kann sich neues Leben einhauchen, wenn es ihr gelingt, bislang nicht oder nur unzureichend adressierte Bedürfnisse und Interessen in der Gesellschaft aufzugreifen, zu artikulieren und zur Geltung zu bringen. Auf diese bislang zu wenig erfüllte Bringschuld zurückgeworfen zu sein – das ist der Punkt, an dem sich die LINKE aktuell befindet. Meine These: Eine Neuerfindung der LINKEN mit Erfolgsaussichten erfordert eine Neuanordnung unter zwei Bedingungen. Erstens müssen gesellschaftliche Herausforderungen im Hier und Heute nach der Existenz einer LINKEN rufen; zweitens muss die Partei vor diesen Herausforderungen auch bestehen. Deswegen geht es zunächst um die politischen Konfliktlinien, in deren Licht die LINKE betrachtet wird, und anschließend darum, was diese für die Anordnung der Partei bedeuten.

Die politische Landkarte der »Zeitenwende«

Bereits vor der vergangenen Bundestagswahl wurde der LINKEN nicht zugetraut, ihre selbstgesteckten Ziele zu erreichen. Erschwerend kommt hinzu, dass ihre bisherige Programmatik angesichts der »Zeitenwende« (Olaf Scholz) an Vordringlichkeit verliert. Auf allen Konfliktlinien muss die LINKE Standpunkte, Prioritäten und Vorgehensweisen neu bestimmen. Das schließt auch Positionen ein, die bereits vor der »Zeitenwende« falsch waren, aber aus zwei Gründen nicht angerührt wurden. Entweder waren sie den Wählenden eher egal; oder ihre Unantastbarkeit war eine unausgesprochene, zugleich streng bewachte Bedingung des Nichtangriffspakts verschiedener Grundrichtungen in der Partei, der Organisationszusammenhalt sicherte.

Beide Gründe sind nicht mehr gegeben: Die Gleichzeitigkeit mehrerer Schocks: russischer Angriffskrieg auf die Ukraine, höhere Inflation, drohende Versorgungsprobleme bei Gas und Wärme, hat die Aufmerksamkeitsschwelle verschoben. Und die Austritte aus mehreren Richtungen der LINKEN zeigen, dass die Geschäftsgrundlage der LINKEN innerparteilich in Frage steht. Der Bedarf an Neuaufstellung lässt sich in einer tour de force anhand von vier Konstellationen verfolgen, die die zentralen Konfliktlinien unserer Zeit darstellen.

1) Soziale Sicherheit und Wertschöpfung

Die LINKE muss einen besseren Zugriff auf das Thema der sozialen Sicherheit erlangen. Die LINKE thematisiert oft und zurecht das Thema sozialer Ungleichheit. Doch für Wähler ist nur soziale Sicherheit unmittelbar erfahrbar, nicht aber soziale Ungleichheit. Daher treibt die Wählenden auch soziale Sicherheit stärker um, wobei die LINKE gut daran tut, diese weiter als bisher zu fassen.

Soziale Sicherheit umfasst wesentlich die Höhe des Bruttolohns jenseits der relationalen Verteilungslage. Diese wird reguliert durch branchenbezogene Tarifverträge, gefährdet durch tariffreie Zonen sowie abgesichert durch den gesetzlichen Mindestlohn. Aufgabe der LINKEN wäre es, stärker als bisher nicht nur in der Frage des gesetzlichen Mindestlohns zu punkten, sondern darüber hinaus ein gesellschaftlich akzeptierter Faktor für die Stärkung branchenbezogener Tarifverträge zu werden, etwa in der staatlichen Auseinandersetzung um bessere Allgemeinverbindlichkeitsregelungen.

Hohe Bedeutung kommt auch der Leistungsseite der Sekundärposition sozialer Sicherheit zu: Welche öffentlichen Anspruchstitel stehen den Wählenden zu? Diese stellen zurecht Ansprüche auf gute soziale, ökologische und technische öffentliche Infrastruktur. Aufgabe der LINKEN ist es, sich so aufzustellen, dass die Bevölkerung stärker als bisher die LINKE als nützliche Gewährleisterin für öffentliche Angelegenheiten ansieht.

Im Weiteren geht es darum, auf dem Feld der kombinierten Sekundärposition durch Einbezug der Abgabenseite mit staatlicher Politik die Ansprüche und Belastungen verschiedener sozialer Gruppen gegeneinander zu vermitteln und durchzusetzen. Aufgabe der LINKEN ist es, hier als tauglicher Gestalter des gesamten fiskalischen Felds aufzutreten.

Schließlich geht es für die LINKE in ihrem bisher schon stark bespielten Feld der sekundären Verteilungsgerechtigkeit darum, den Wählenden zu verdeutlichen, dass sie verteilungspolitisch für das Richtige steht – eine gar nicht so einfache Aufgabe, da den wenigsten Menschen bewusst ist, wie sich ihr persönlicher Saldo aus Belastungen durch Steuern und Abgaben und in Anspruch genommenen Ressourcen durch Sozialleistungen, subventionierten ÖPNV, beitragsfreier Kinderbetreuung usw. darstellt und welche Gleichheit oder Schiefe in der Gesamtverteilung daraus resultiert.

Neben sozialer Sicherheit ist es das Thema der Wertschöpfung, dessen sich die LINKE stärker annehmen sollte. Anknüpfend an ihre Gerechtigkeitsforderung einer gleichen Verteilung kann sich die LINKE zuvorderst auf die keynesianische Erkenntnis berufen, wonach eine hohe Wertschöpfung auch auf eine gleichere Verteilung angewiesen ist.

Jedoch hängt die Höhe der Wertschöpfung nicht nur von der Verteilung ab. Bei sektorweiter Tarifbindung und starker Organisation der Lohnabhängigen sind Unternehmen gezwungen, nicht durch absolute oder (im Verhältnis zum Output) relativ sinkende Löhne Gewinne zu generieren, sondern immer wieder neu durch pionierhafte Steigerung ihrer Produktivität kurzfristig ihre relativen Preise zu senken und so Extraprofite zu erzielen, die bei gesellschaftlicher Verallgemeinerung wieder verschwinden.

Eine die Nachfragesteuerung ergänzende, schumpeterianische Angebotspolitik von links müsste daher einerseits Innovations- und Technikförderung, Wagnissubventionen sowie Modernisierungen der Wertschöpfung forcieren, die zu einer Steigerung der Arbeits- und Ressourcenproduktivität führen. Sie müsste andererseits mit Investitionen jene öffentlichen Infrastrukturen schaffen, die gesellschaftlich nutzbare Surplusproduktion und umweltfreundliche Verkehrsverhältnisse besser ermöglichen.

Eine solche Förderung von Wertschöpfung ist wichtig, weil gemäß der Mackenroth-These aller Sozialaufwand und alles, was verteilt werden soll, immer aus dem Volkseinkommen der laufenden Periode gedeckt werden muss. Von Keynes stammt zwar die richtige Bemerkung: »Alles, was wir machen können, können wir uns auch leisten«. Aber was, wenn nicht klar ist, ob wir es machen können? Dies verweist auf Änderungen der Wertschöpfungsbedingungen in jüngster Zeit.

Zum einen wurden Deutschland und Europa im Schatten zuerst der Corona-Pandemie und nun auch des Kriegs um die Ukraine mit Wucht an die stofflichen Voraussetzungen des Wirtschaftens erinnert. Zum anderen sind die Inflationssignale infolge von Lieferengpässen und Ressourcenknappheiten im Jahr 2021 womöglich Vorboten dafür, dass hochtechnologische, industriekapitalistische Gesellschaften, selbst wenn sie sich des selbstauferlegten Korsetts ihrer Schuldengrenzen entledigen, in Trade-Offs über Prioritäten entscheiden müssen. Zu den Machbarkeitsproblemen zählen auch Fachkräftemängel in einigen Branchen, die niemand anderem abgeworben werden können, weil es sie bislang schlicht nicht gibt, wie etwa bei der Bahn.

Die Frage der Umverteilung drängt daher im Lichte der Knappheiten auf die Tagesordnung zurück, aber anders als bisher von der LINKEN gekannt: Anstatt dass nur durch monetäre Umverteilung sozialer Fortschritt erreicht wird, geht es bei Ressourcenknappheit auch darum, anlässlich der Last steigender Preise gezielt Haushalte mit geringeren Einkommen zu unterstützen. Umverteilung ist also bereits für Statuserhalt nötig, selbst wenn Statusverbesserung noch nicht in Sicht ist.

2) Aufstiegs- und Abstiegsräume

Aufstiegs- und Abstiegsräume sind greifbar: einerseits anhand der Wachstumsregionen, die meistens mit Groß- und Hochschulstädten sowie ihrem näheren Umfeld und ihren ›Speckgürteln‹ übereinstimmen, andererseits anhand der wirtschaftlich und bevölkerungsmäßig schrumpfenden Städte, Regionen und Landkreise. Dieser Gegensatz hat in Deutschland eine starke West-Ost-Schlagseite und wird parteipolitisch von den Polen Bündnis 90/GRÜNE und AfD am deutlichsten abgebildet. Die Deckungsgleichheit von geographischen, wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Flugbahnen ist nichts Natürliches, sondern verdankt sich dem Zusammenwirken von kapitalistischer Produktionsweise und gesellschaftlich-politischen Verhältnissen. Es zeigt sich ein Muster ungleicher und kombinierter Entwicklung, durch die sich Wertschöpfungskreisläufe, Versorgung mit öffentlicher Infrastruktur, Lebenschancen und politische Einflussmöglichkeiten zunehmend ungleicher verteilen, wenn den polarisierenden Tendenzen nicht politisch entgegengewirkt wird.

In den Aufstiegsräumen entwickeln und verstärken sich Ungleichheiten in der Sozialstruktur, die im Stadtbild deutlich sichtbar sind. Am oberen Ende der Hierarchie finden wir diejenigen, die von Knappheitsrenten leben können, etwa aus Mieteinnahmen und Immobilienspekulation, darunter die stark nachgefragten Beschäftigten und Unternehmer, deren Einkommen für die immer teureren Miet- und Eigentumswohnungen reicht. Eine Stufe tiefer befindet sich die bis in die ›Schattenwirtschaft‹ reichende ›Dienstbotengesellschaft‹, deren Dienste durch High Potentials sowie Touristen stetig nachgefragt werden und die sich oft oder gar meist aus migrantischen Arbeitskräften zusammensetzt, die hinter den Einkommensstarken aufräumen und putzen, deren Kinder behüten, deren Pflegebedürftige versorgen und ihnen als Beschäftigte von Lieferdienstplattformen Einkäufe tätigen und warmes Essen liefern. Dazwischen sitzt das derzeit immer noch größte, aber schrumpfende Segment derjenigen, die dank Altmietverträgen, öffentlichem Wohnungsbestand oder selbstgenutztem Wohneigentum und tarifgebundenen Arbeitsplätzen noch nicht aus den angestammten Quartieren herausgepreist wurden.

Dagegen befinden sich die Abstiegsräume in einem Teufelskreis aus hoher Arbeitslosigkeit, geringen Steuereinnahmen, hohen kommunalen Sozialausgaben, hoher kommunaler Verschuldung mit entsprechend schrumpfenden politisch-eigenständigen Gestaltungsspielräumen, geringen Investitionen, schlechter Infrastruktur, Abwanderung junger und hochqualifizierter Menschen in die Aufstiegsräume, daraus folgend zunehmender Überalterung und geringer wirtschaftlicher Innovationskraft. Wo hier doch Unternehmensansiedlungen stattfinden, bestärken sie oft nur die wirtschaftliche Abhängigkeit von den Wachstumsregionen, etwa bei Logistikzentren der Digitalkonzerne. An den Vorteilen, die sich für manche Konsumenten durch die Sharing Economy ergeben, partizipieren die Abstiegsräume kaum, denn dort lohnt sich weder die Vermietung freier Zimmer an Touristen, noch reicht die kaufkräftige Kundschaft zur dortigen Ansiedlung von Lieferdiensten, noch findet sich dort eine kritische Masse für nicht-hierarchische, neue Unternehmensformen zusammen.

Die LINKE hat einige Vorschläge dafür, die Ungleichheit in den Wachstumsräumen zu bekämpfen, bislang aber noch keine Strategie dafür, den Teufelskreis der Abstiegsräume zu durchbrechen. Eine echte Lösung erforderte an erster Stelle, dort mehr Wertschöpfung im Zuge eines aktiven Strukturwandels zu organisieren. Hierzu benötigt die Partei im Grunde mehr als alle anderen eine Verkopplung von Industrie-, Struktur- und Vergabepolitik, wenn sie nicht bloß Einkommen, sondern auch Lebenschancen neu generieren und umverteilen will.

3) Geopolitik

Supranationale Strukturen und Prozesse, darunter weltwirtschaftliche Verflechtungen, erfahren einen deutlichen Politisierungsschub. Die Abhängigkeit inländischer Wohlfahrtsproduktion von Vorgängen, die sich in der Außen-, Handels- und Sicherheitspolitik abspielen, ist unabweisbar geworden. Bisher dominierte ein »freundliches Desinteresse« der Deutschen nicht nur an Auslandseinsätzen der Bundeswehr wie jenem in Afghanistan, sondern an der Außen- und Sicherheitspolitik insgesamt. Dies könnte sich ändern, wenn etwa die derzeitigen Energiekonflikte im Gefolge des Ukraine-Krieges nur Verboten turbulenter Zeiten in der internationalen Politik und Weltwirtschaft sind. So sorgt die von allen angestrebte Energiewende weg von fossilen Energieträgern bisweilen für erhebliche Verschiebungen bei der Energieversorgung und darüber auch in den geopolitischen Kräfteverhältnissen. Die Nachfrage nach fossiler Energie wird klimaschutzbedingt zurückgehen, aber nicht verschwinden – mit der paradoxen Folge, dass einige Exporteure fossiler Energieträger aktuell sogar an Einfluss gewinnen, während ihre Konkurrenz durch den Konzentrationsprozess verliert.

Längerfristig jedoch werden vor allem Rentiers-Staaten in erhebliche Schwierigkeiten geraten, deren unausgesprochener, grundlegender politischer Tausch darin besteht, dass die politisch Führenden und die Rentiers sich von der lohnabhängigen Bevölkerung Stillhalten und den Verzicht auf politische Abwehr- und Teilhaberechte im Gegenzug für die Bereitstellung entgeltfreier Leistungen erkaufen, die sie aus den Einnahmen fossiler Exporte finanzieren. Geht diese Geschäftsgrundlage jedoch verlustig, weil die fossilen Exportmärkte versiegen, könnten erhebliche soziale Konflikte und politische Unruhen die Folge sein, bei denen von einer friedlichen Beilegung nicht auszugehen ist, da die dortigen politisch-wirtschaftlichen Eliten zu viel zu verlieren haben.

Die Länder des Westens, die sich lange bereitwillig von den Rentiers-Staaten haben beliefern lassen und dabei ein oder zwei Augen hinsichtlich der Menschenrechtslage zudrückten, müssen sich nun angesichts aufflammender Konflikte hierzu verhalten. Denkbar ist, dass ein Machtvakuum in den Petro-Staaten zu Bürgerkriegen und Fluchtbewegungen führt und sich auf die gesamte Region ausweitet. Demgegenüber dürfte das geopolitische Gewicht derjenigen Länder wachsen, die mehr als die Hälfte der weltweit bekannten Vorräte für Kobalt (Demokratische Republik Kongo), Lithium (Australien) oder seltener Erden (China) stellen, solange hierfür kein Ersatz gefunden wird. Kurzum: Alle Länder, deren Energievorräte – seien es konventionelle oder neuartige – stark nachgefragt werden, könnten versucht sein, die gewachsene Angewiesenheit der anderen Länder auf ihre Lieferketten zu ihrem Vorteil auszuspielen.

Dies wirft in Ländern wie Deutschland die Frage auf, wie man sich verhalten soll, wenn der Wunsch nach Versorgungssicherheit im Widerspruch zu universalistischen Moralvorstellungen steht. Ihren ersten Testlauf hatte diese Frontstellung bei der Frage der russischen Gaslieferungen im Kontext des Kriegs um die Ukraine, wie man an der Vielzahl hämischer Reaktionen auf die Katar-Expedition des Wirtschaftsministers Habeck beobachten konnte. Robert Habecks Verbeugung vor Katars Energieminister Saad al-Kaabi ist sicherlich nicht, was die Bündnisgrünen als ›wertebasierte‹ Politik in Aussicht gestellt hatten. Aber gerade die LINKE ist schlecht vorbereitet auf solche Dilemmata, die sich auf dem Weg zur dekarbonisierten Wirtschaft stellen. Denn auch Bestandteile erneuerbarer Energieerzeugung werden teils von autoritären Ländern bezogen werden müssen.

Noch grundsätzlicher erscheint das Defizit der LINKEN im Kernbereich der Außen- und Sicherheitspolitik. Nicht nur die problematische Putin-Nähe (zu) vieler Mandatsträger und Mitglieder, sondern auch der hehre Pazifismus aus dem Erfurter Grundsatzprogramm hält dem Realitätstest der »Zeitenwende« nicht stand. Erforderlich ist hier eine Revision der Programmatik, die nicht erst bei der Auswahl zulässiger Instrumente oder bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr beginnt, sondern vielmehr bereits beim Weltbild, auf dem Analysen und Mittelwahl aufbauen. Zu viele aus der Partei, insbesondere Altlinke, weigern sich bis heute, die zivilisatorischen Errungenschaften bürgerlicher Gesellschaften anzuerkennen, wie es sie hauptsächlich im globalen ›Westen‹ gibt: demokratisch-republikanische und rechtsstaatliche Staatsverfassungen, gesellschaftliche Offenheit sowie beständige Produktivkraftentwicklung als wohlfahrtssteigernde Grundtendenz dort, wo die kapitalistische Produktionsweise herrscht.

Dass die westlichen Gesellschaften viele ihrer konstitutiven Versprechen verfehlen, bleibt unbestritten. Doch ebenso unbestreitbar ist, dass der Wunsch von Subjekten mit demokratischen Rechten nach Einlösung bislang unerfüllter materieller und politischer Besserungsversprechen im ›Westen‹ fortwährend zu gesellschaftlichem Fortschritt antreibt. Nicht-westliche, autoritäre Gesellschaften hingegen weisen nicht einmal diese Versprechen auf, an denen sie scheitern könnten. Aus der grundlegenden gesellschaftspolitischen Fehleinschätzung vieler Linker folgen problematische Einzelpositionen.

Denn wie soll eine Position ›links‹ sein, die faktisch Ländern durch die Ablehnung westlicher Waffenlieferungen die Absage an militärische Gegenwehr empfiehlt? Wie kann es links sein, einer ganzen Bevölkerung faktisch nahezulegen, durch Kapitulation und Unterwerfung unter ein Vasallenregime auf ihr Selbstbestimmungsrecht zu verzichten? Wie kann es links sein, bei Volksbewegungen zum Abschütteln autoritärer Zustände etwa in der Peripherie Russlands nicht spontan mit dieser Bewegung zu fiebern, sondern reflexhaft ein westliches Komplott zu vermuten? Handelt es sich nicht um einen Pazifismus auf Kosten anderer?

4) Externalisierung

Ging es zuvor darum, was ›von außen‹ auf die Bundesrepublik hineinwirkt, geht es nun umgekehrt darum, welche Wirkung die deutsche Politik, Wirtschaft und Gesellschaft auf andere ausübt. Als ›Externalisierung‹ definiert der Internationale Währungsfonds (IWF) eine Konstellation, in der Konsum- und Investitionsentscheidungen auch wirtschaftliche Einheiten berühren, die nicht direkt Teil der Transaktion sind. Ist der Nettonutzen für die nichtbeteiligten Betroffenen größer null, spricht man von positiver, im umgekehrten Fall von negativer Externalität. Internalisierung meint den Versuch, den Verursachern der Externalitäten deren Wirkung durch politische Regelungen zuzuweisen. In mindestens vier Bereichen lässt sich zeigen, wie Deutschland seine Entscheidungsfolgen bislang ohne hinreichende Internalisierung externalisiert.

Aus den Auseinandersetzungen der Eurokrise ist erstens bekannt, dass Deutschland im Hinblick auf lohngestützten Konsum und Investitionen unter seinen Verhältnissen gelebt und Leistungsbilanzüberschüsse generiert hat, was einem Nettokapitalexport ins Ausland korrespondierte und dort private Überschuldung befeuerte.

Bekannt ist zweitens die fehlende ökologische Nachhaltigkeit der Wirtschafts- und Lebensweise der industriekapitalistischen Länder, zu denen Deutschland keine Ausnahme bildet.

Weniger bekannt ist drittens Deutschlands Rolle beim Abwerben von Fachkräften. So kann die Bundesrepublik (siehe den Koalitionsvertrag der Ampel) den Zusammenbruch ihres Gesundheits- und Pflegesektors nur durch die Abwerbung ausländischer Fachkräfte verhindern, deren Ausbildung im Ausland finanziert und organisiert worden ist und deren Auswanderung in den Herkunftsländern eine Lücke öffnet.

Durch Wladimir Putins Einmarsch in die Ukraine schlagartig bewusster geworden sind viertens die faktisch ausgelagerte militärische Sicherheit und Abschreckung, die Deutschland unter dem Schutzschirm anderer NATO-Länder, vor allem der USA, genießt. Solange es nicht zu ›heißen‹ Kriegen kam, die Deutschland tangierten, ließ sich diese Auslagerung militärischer Sicherheit ausblenden. Inzwischen wird sie sogar von denjenigen eingestanden, die jegliche militärische Aufrüstung ablehnen. So heißt es im ›Appell: Demokratie und Sozialstaat bewahren – Keine Hochrüstung ins Grundgesetz!‹: »Die Anschaffung von konventionellen Waffen wie Kampfflugzeugen und bewaffnungsfähigen Drohnen als Abschreckung unter atomaren Militär¬blöcken ist sinnlos.« Dabei ist es aus linker Position fragwürdig, ausgerechnet ein Trittbrettfahren auf der atomaren Abschreckung der US-amerikanischen Vormacht als Voraussetzung der eigenen Verteidigungspolitik zu akzeptieren.

Beim Versuch, die Folgewirkungen der Externalisierung zu internalisieren, nimmt das Konfliktniveau zu. Denn Externalisierung hält sich auch deshalb lange, weil sie Verteilungskonflikte unterbindet. In der Eurokrise setzte sich der Merkel-Kurs beibehaltener deutscher Leistungsbilanzüberschüsse auch durch, weil das Gegenmodell einer Strategie der Nachfragesteigerung in Deutschland zu handfesten Verteilungskonflikten geführt hätte. Als gesichert kann auch gelten, dass Vermögende und Besserverdienende einen höheren CO2-Fußabdruck aufweisen als Gering- und Durchschnittsverdiener, eine Internalisierung also erheblich auf ihre Kosten ginge.

Im Sorge-Bereich würde eine internalisierte Lösung nicht nur bedeuten, die Zahl der Arbeitskräfte durch bessere Arbeitsbedingungen, höhere Gehälter, bessere Tarifverträge usw. zu erhöhen, sondern zugleich das Angebot durch Vergesellschaftung, etwa über eine Pflegevollversicherung für die breitere Bevölkerung, erschwinglich zu machen. Nicht zuletzt bedeutete es aber auch, auf eine (geschlechter-)gerechte Verteilung der Sorgearbeit innerhalb der Haushalte sowie in der Gesellschaft insgesamt hinzuwirken.

Schließlich ist eine eigenständige linke Verteidigungspolitik vordringlich. Sie muss nicht alle bisherigen Grundsätze über Bord werfen, aber kommt um die Anerkennung der veränderten Weltlage nicht herum. Will sie die materielle und militärische Sicherheit nicht allein von den USA abhängig machen, die unter einer erneuten radikal-rechtspopulistischen Präsidentschaft den Schutzschirm aufkündigen könnten, braucht die LINKE ein eigenes Konzept deutscher und europäischer Sicherheit und Resilienz. Dieses sollte eine eigenständige europäische militärische Verteidigungsfähigkeit ebenso umfassen wie eine europäische Energie- und Versorgungsautonomie.

Dies alles zeitgleich in Angriff zu nehmen bedeutet nicht nur Umverteilung, sondern mit Marx auch »eine bewußte und planmäßige Rückwirkung der Gesellschaft auf die naturwüchsige Gestalt ihres Produktionsprozesses«. Notwendig wären eine demokratische Politisierung der Prioritäten bei Interessen- und Bedürfnisbefriedigung und zu ihrer Umsetzung bisweilen auch Instrumente wie Investitionslenkung, Rationierungen oder Preiskontrollen. Wäre die LINKE nicht prädestiniert, dies einzufordern?

Die LINKE als politische Anordnung

Man kann grob drei Arten unterscheiden, über die Parteien in die Gesellschaft verwurzelt sind. Sie beschreiben zugleich die Achsen, über die Parteien in Konfliktlinien eingewoben sind, wie sie darauf reagieren und wie sie in sie eingreifen können. Die LINKE muss derzeit auf allen drei Achsen bittere Rückschläge hinnehmen. Bei allen dreien sind Revisionen und Neuorientierungen notwendig, die mitunter radikal ausfallen.

Erste Achse: ›Historische Mission‹ der Partei

Die erste und prominenteste Achse ist die langfristige Zweckbestimmung einer Partei als ›historische Mission‹, mit der sie identifiziert wird. Je mehr diese Mission als zur Gegenwart passend aufgefasst wird, desto plausibler wird es, der Partei beizutreten oder ihr zumindest die Stimme zu geben. Die LINKE leidet hier nicht nur daran, dass durch die Abkehr von SPD und Bündnis 90/GRÜNE vom Marktradikalismus eine LINKE wenig dringlich erscheint, die nur von einem antineoliberalen Gründungskonsens und der Furcht, unter die Fünf Prozent-Klausel zu fallen, zusammengehalten wurde.

Zusätzlich leidet die LINKE daran, dass sich andere Fragen in den Vordergrund drängen, auf die sie bislang keine plausiblen Antworten hat und bei denen sie in Weltsicht, Inhalt und Methode entwaffnet dasteht. Je nach Strömungen und Tradition zeichneten sich Teile der Partei hinsichtlich der Geopolitik Russlands und Chinas durch Doppelmoral aus: Sie, die die NATO für den Jugoslawien-Krieg, die Abspaltung des Kosovo oder die Intervention in Libyen kritisiert hatten, unterließen Kritik an Putin beim Angriff auf die Ukraine, bei der Abspaltung der Krim oder bei der Intervention in Syrien.

Nicht nur der Ukraine-Krieg ist mit dem Pazifismus vieler in der LINKEN nicht zu bearbeiten. Aus Sicht vieler Wähler reicht es zurecht nicht hin, wenn die LINKE die angekündigte Aufrüstung der Bundeswehr einfach nur ablehnt. Denn die Wähler nehmen wahr, dass sich die geopolitische Gemengelage gewandelt hat. Auch viele derjenigen, die nicht die Sichtweise der NATO übereifrig übernehmen, halten eine Diskussion über das Aufgabenprofil der Bundeswehr unter veränderten sicherheitspolitischen Bedingungen für angezeigt.

Die putin-freundliche Interpretation der Weltordnung war dabei nur der sichtbarste Ausdruck eines Denkens, das zu wenig Halt in der Realität hatte. Deswegen wirkt die LINKE nicht nur auf dem Gebiet der internationalen Politik, sondern auch auf vielen anderen Gebieten ihrer Deutungs- und Handlungskompetenz beraubt, überrumpelt und hilflos.

Ändern muss die LINKE daher auch ihre politische Methode. Die auf absehbare Zeit dominanten Herausforderungen eignen sich nicht dafür, durch eine vor allem empörungs- und protestgetriebene Politik erschlossen und bewältigt zu werden. Es sei denn, man verengt seine Ausrichtung darauf, politisch ungebundene Enttäuschte, Unzufriedene und Frustrierte einzusammeln, wie es zuletzt das Geschäft Oskar Lafontaines und Sahra Wagenknechts war.

Zweite Achse: Verankerung in die Breite

Auf der zweiten Achse verwurzeln sich Parteien in die Breite der Gesellschaft, indem sie unter wichtigen Verbänden und über unterschiedliche Milieus, Regionen und politische Ebenen hinweg Verbündete gewinnen. Erfolgreich sind sie, je mehr Politikfelder sie im Sinne der ›historischen Mission‹ erschließen. Dazu brauchen sie Multiplikatoren, die für sie sprechen. Um innergesellschaftlich deutlicher und längerfristig Boden zu gewinnen, müsste die LINKE auf allen Ebenen rekrutieren. Das gilt für den engeren Kreis der Aktivistinnen und Aktivisten sowie für Mandatsträger von der Bezirksvertretung über den Kreistag bis zum Bundestag und zum Europäischen Parlament. Ebenso gilt es für diejenigen, die man als Unterstützende außerhalb des engeren Kerns der Partei benötigt.

Im Idealfall bewirkte das eine Art dialektische Wechselwirkung: In die eine Richtung veränderte die LINKE die gesellschaftlichen Sektoren, Klassen und sozialen Kreise, die sie berührt. In die andere Richtung würde sich unvermeidlich auch die Partei durch jeden neuen Kontakt und Erfahrungsaustausch mit den Menschen aus ihren Wirkungsbereichen verändern.

Mehr noch: Es sind das Verständnis für und der Respekt vor den unterschiedlichen gesellschaftlichen Bezirken und ihren Leitideen, Prioritäten und ›Wirkungsgesetzen‹ (die sich nicht aus irgendeiner ›Logik des Kapitals‹ ableiten lassen), die über die Realitätstauglichkeit und Mehrheitsfähigkeit linker Politik entscheiden. Hier stellen sich hegemoniepolitische Bewährungsproben der LINKEN, die nicht weniger wichtig sind als ihr Erfolg an der Wahlurne. Hier kommt es darauf an, Sozialismus für die gesellschaftlichen Bereiche zu ›übersetzen‹ und als Antwort auf die drängenden Gegenwartsfragen plausibel zu machen.

Was man dagegen allenthalben beobachten konnte, war in einer ersten Phase der Partei bis ca. 2015 die ›Linkshaberei‹. In der Hoffnung auf Umfrageerfolge für eigene Positionen gegen Sozialabbau und militärische Interventionen, die sich gleichwohl nie in Wahlergebnisse umsetzen ließen, trat die LINKE der politischen Konkurrenz mit einem Protest- und Entlarvungsgestus gegenüber. Ab der Flüchtlingskrise schlug die vormalige Selbstsicherheit um. Nun warf die eine Strömung der anderen lautstark vor, für den Wegfall von Wählenden verantwortlich zu sein – seien es Facharbeiter, seien es Wählende aus dem linksliberalen Milieu. Das Heil wurde fortan von viel zu vielen darin gesucht, unterstellte Interessen bestimmter sozialer Gruppen zu verabsolutieren und den innerparteilichen Gegnern vorzuwerfen, diese angeblich verraten zu haben.

Dies gipfelte jüngst in der Auseinandersetzung um die Klimapolitik und den sozial-ökologischen Umbau. Nur wenig vereinfacht sehen einige LINKE ihre Aufgabe darin, sich als treueste Mitdemonstranten von Fridays for Future (FFF) in der Hoffnung zu beweisen, auf deren Welle wahlpolitische Erfolge einzufahren. Sie schöpfen keinen Verdacht, dass auf den Demos primär Gymnasiasten mitlaufen. Ihre Kontrahenten in der Partei wiederum berufen sich auf den Hauptschüler als Exponenten der ›wahren‹ Arbeiterklasse, der mit FFF nichts anfangen könne und nur vom schnellen, teuren Auto träume.

Die Verabsolutierung beider Positionen auf beiden Seiten ist nicht nur im Kern unpolitisch, weil sie Dilemmata und Zielkonflikte übergeht. Sie vernachlässigt auch, was in dieser Konstellation Aufgabe einer linken Partei wäre: nämlich der Versuch, aus den legitimen Forderungen unterschiedlicher sozialer Kreise politische Alternativen zu bilden, die glaubwürdig für das Gemeinwohl stehen und für die eine machtpolitische Perspektive geschaffen werden kann. Diese Aufgabe stellt sich in allen politischen Arenen und eröffnet auch Chancen, über alle Ebenen (europäisch bis kommunal) hinweg politische Alternativen anzubieten, für die Mehrheiten organisiert werden müssen.

Dritte Achse: Das politische Innenleben

Das führt direkt zur dritten Achse der Partei als politischer Anordnung. Ziel der Partei ist es, das politische Selbstverständnis möglichst vieler Leute zu prägen. Dies bestimmt ihr Innenleben. Eine Partei ist gesellschaftlich verwurzelt, wenn viele Leute ohne großes Nachdenken auf bestimmte politische Fragen dieselbe Antwort wie die Partei geben. Hier zeigt sich, dass die LINKE bei der Schaffung von Mehrheiten für politische Alternativen zu wenig Erfahrung hat. Gerade in den alten Bundesländern ist sie viel stärker darin geübt, nur als Negativ-Koalition zu wirken und sich als Sammelbecken aller Ablehnenden zu organisieren. In den neuen Bundesländern wiederum schöpfte sie lange aus einem Reservoir der Kritik an der Wiedervereinigung, das inzwischen weithin erschöpft ist.

Spätestens an dieser Stelle der Formulierung LINKER positiver Antworten wird klar: Die LINKE wird ihre innere Zerrissenheit nicht ohne schmerzhafte Lernprozesse und Revisionen überwinden können. Es ist gut möglich, dass nicht alle bisherigen Mitglieder diesen Weg mitgehen. Im Zuge der bisherigen Ausrichtung auf Negation der bestehenden Ordnung war das Innenleben der Partei von starker Beliebigkeit bestimmt. Das Sammelsurium an Orientierung in der LINKEN war nur deswegen kein Problem, weil es nicht ›zum Schwur kam‹, sprich ihre Schmerzensgrenzen nicht durch Regierungsteilnahme im Bund getestet wurden. Überdies war die Partei bislang noch erfolgreich genug als Versorgungswerk und/oder Beute der jeweils dominanten Bündnisse im jeweiligen Landes- oder Kreisverband.

Leider ist das zuverlässigste Gegenstück zur parteiinternen Beliebigkeit eine versteinerte ›altlinke‹ Orientierung. Gemeint ist ein strömungsübergreifend anzutreffendes Amalgam von politischem Stil, Einstellungsbündeln und Traditionsbewusstsein. Die o.g. Fehleinschätzung westlicher Gesellschaften setzt sich fort in unzureichender Wertschätzung emanzipatorischer Potentiale und Entwicklungen. Sie zeigt sich in verrutschten Maßstäben, wenn etwa die hiesige Presselandschaft als nur wenig besser eingeschätzt als diejenige in autoritären Regimen. Auch wird sie deutlich in einem oft vorreflexiven und pauschalen Dagegen-Sein, das sich in der Unhinterfragbarkeit des Feindbilds NATO und z.T. auch in der Nähe zu Verschwörungserzählungen manifestiert.

Immer wieder fällt im altlinken Denken auch eine Lernverweigerung auf, so dass neue, unbekannte politische Fragestellungen entweder mit Gewalt in überkommene Deutungsraster gezwungen oder gar ganz ignoriert werden, um das eigene Weltbild nicht erschüttern zu müssen. Altlinke, die auf diese Weise an überkommenen Deutungen festhalten, obwohl sie sich in der Kommunalpolitik oder der betrieblichen Interessenvertretung als politikfähig und pragmatisch erweisen, zeichnen sich durch kognitive Dissonanz aus. Inzwischen wird aber immer deutlicher, dass die Wählenden all dies nicht mehr akzeptieren: weder eine Partei, die nie in die Verlegenheit der Mitregierung kommt, noch eine, die sich aufgrund zu großer inhaltlicher Bandbreite selbst zerfleischt, noch eine, die durch Verpflichtung auf altlinke Denkmuster keine zeitgemäßen Antworten geben kann.

Wozu (noch) die LINKE?

»Historically, for the moment, the initiative is not with us. The Left is being daily shaped by those forces, rather than harnessing and shaping them. What, then, has triggered off such a profound historical transition? Why do people on the Left feel, not that they have lost the tactical initiative for a time, but that their very language is collapsing on them?« (Stuart Hall, 1985)

Will die LINKE überleben, muss sie nach meiner Auffassung mehrere Anforderungen erfüllen. Notwendig ist die Trennung von den noch immer zu stark vertretenen ›altlinken‹ Erwartungen, Positionen und Herangehensweisen. Wiederholt ist erstens darauf hinzuweisen, dass die altlinken inhaltlichen Standpunkte und politischen Methoden der heutigen Lage nicht angemessen sind und weder unmittelbar für die Partei noch mittelbar für ihre erhofften Wählenden einen nennenswerten politischen Gebrauchswert versprechen.

Zweitens ist zweifelhaft, wie zweckhaft die altlinke Orientierung in der Vergangenheit überhaupt gewesen ist. In der Anfangsphase konnte die Unterstützung aus der Wählerschaft für die LINKE noch als inhaltliche Zustimmung missverstanden werden. Im Rückblick aber wird klar, dass dem nicht so war, sondern dass die Zunahme an schwankungsstarken Protestwählenden im deutschen Parteiensystem mit dem Aufstieg der LINKEN zeitlich zusammenfiel: Post hoc ergo propter hoc. Diese optische Illusion war auch bei Mitgliedern der LINKEN verbreitet, kam sie doch deren Selbstbild entgegen.

Drittens könnte es sich als verhängnisvoll erweisen, wenn Wähler die wahre Praxis der LINKEN stärker erkennen. Jede Partei hat nämlich mindestens zwei Erscheinungsweisen in der Gesellschaft. Die allermeisten Leute kennen das medial repräsentierte Bild mit seinem Anschein. Viel weniger sind die Leute vertraut mit dem Sein, also der Alltagsrealität der Partei. Die Kluft zwischen Anschein und Sein verschafft den Aktiven einer Partei Spielräume, neben dem Anschein im Sein auch andere Ziele zu verfolgen. Das kann gutgehen, solange die Mitglieder dabei nicht bestimmte Indifferenzzonen der Wählenden stören und mögliche Widersprüche öffentlich deutlich werden lassen. Es geht aber schief, wenn der Widerspruch zwischen Anschein und Sein allzu offenkundig wird, etwa wenn die Partei sich Skandale zu Themen wie dem Nahostkonflikt leistet, die mit ihrer ›historischen Mission‹ wenig am Hut haben. Die ans Licht getretene Putin-Freundlichkeit (zu) vieler LINKEN-Funktionäre war nur ein offensichtlicher Fall dafür, wie altlinke Süppchen jenseits plausibler politischer Zweckmäßigkeit gekocht wurden.

Viertens scheint inzwischen kaum abweisbar, dass bei gleichbleibender inhaltlicher Bandbreite der Partei Streits zu solchen Fragen zu viel Zeit und Energie absorbieren werden. Dadurch würde die Partei für Wähler und Mitglieder unattraktiver. Zurück blieben nur noch berufspolitische und aktivistische Cliquen – eben jene, durch die die LINKE nicht hoffen kann, wieder auf die Beine zu kommen.

Nicht wenige Rufe werden derzeit danach laut, es dürfe so nicht weitergehen. Doch zu wenige davon nennen zugleich Ross und Reiter, und noch weniger sprechen die Strukturprobleme an, die bis zum Kern der Partei reichen. Am Ende bleibt dann faktisch doch nur ein mit wenigen Akzenten versehenes ›weiter so‹. Es könnte sein, dass der ›point of no return‹ für die LINKE schon überschritten ist, selbst wenn sie die hier vorgeschlagenen Revisionen vornimmt. Vielleicht ist es aber auch noch nicht so weit.

Die Lage wäre vermutlich aussichtslos, sollte das politische Anspruchsniveau in der Bevölkerung entsprechend der Maslowschen Bedürfnishierarchie herabgesunken sein auf physiologische und Sicherheitsbedürfnisse, die nicht in erster Linie mit der politischen Linken assoziiert werden. In diesem Fall hätte keine Partei links von SPD und Bündnisgrünen eine ernstzunehmende Chance, ganz gleich wie sie sich aufstellte.

Sollte dem jedoch noch nicht so sein, so dass auch unter Bedingungen des mangelbedingten politischen Notstands und der ausgerufenen »Zeitenwende« hinreichend viele Leute auf soziale Gerechtigkeit und demokratischer Gestaltung gesellschaftlicher Verhältnisse pochen, würde eine solche Partei noch gebraucht. Es käme dann für die LINKE darauf an, glaubwürdig Signale abzugeben, dass sie diese Partei sein will und sein kann.

Ginge die LINKE unter, obwohl der Bedarf an linker Politik für hinreichend viele Menschen außer Frage steht, wäre dies eine Tragödie. Ginge sie unter, weil sie altlinke Theorie und Praxis, Beliebigkeit und Realitätsverweigerung nicht abschütteln konnte und sich selbst in den Abgrund riss, wäre dies eine Farce.

11.04.2022