Politikwechsel nicht in Sicht: Das Versagen der Linkspartei

Stefan Reinecke


Mein Ziel ist eine Bundesregierung ohne CDU – am liebsten eine grün-rot-rote“, erklärte die neue Chefin der Linkspartei, Susanne Hennig-Wellsow, kurz nach ihrer Wahl. Ihre Vorgängerin Katja Kipping argumentierte bei ihrer Abschiedsrede ebenso, dass die Zeit mehr brauche, als „an der Seitenlinie das Spiel zu kritisieren“. Und Gregor Gysi sieht die Linkspartei „bereit, in diese Verantwortung zu gehen“. Es gibt allerdings auch viele skeptische Einwürfe, etwa von der zweiten Parteichefin, Janine Wissler, die Regieren zwar nicht generell ausschließt, aber stark die roten Haltelinien betont.

Manchmal ist es daher nützlich, zurückzublenden, um von den dortigen Erwartungen und Befürchtungen die Entstehung des Jetzt schärfer zu sehen. 2012, als Kipping und Bernd Riexinger in Göttingen zu Parteivorsitzenden gewählt wurden, stand die Linkspartei vor der Spaltung in Ostrealos und Westlinke. Das politische Selbstverständnis passte einfach nicht zusammen.

Im Osten regierten die Genoss*innen brav an der Seite der SPD. Die historische Rolle der PDS war die Integration der abgewickelten DDR-Eliten und der Wendeverlierer in die Bundesrepublik gewesen – die Regierungsbeteiligung verkörperte diesen Erfolg. Im Westen war die sinnstiftende Erzählung gegensätzlicher Art. Die Ex-SPD-Genoss*innen um Oskar Lafontaine, die sich erstaunlich reibungslos mit den bunten Resten des bundesdeutschen Linkssektierertums verbunden hatten, wollten die SPD als Agenda-Partei demaskieren und mit linkspopulistischer Fundamentalopposition vor sich hertreiben. Diese Strategie bescherte der Partei 2009 fast 12 Prozent. Allerdings wirkten die Attacken auf die SPD, die nun geschrumpft in der Opposition war, nicht mehr wie kraftvolle Anklagen, sondern wie Rechthaberei.

Die Spaltung blieb 2012 aus. Sie wäre ein Akt der Selbstzerstörung und das Ende der Linkspartei als bundesweiter Akteur gewesen. Der Blick in den Abgrund in Göttingen hatte einen zwiespältigen Effekt. Er verstärkte die Tendenz, Widersprüche lieber zu verdecken, als sie offensiv auszutragen. Denn dann droht womöglich das politische Ende. Diese zur Mentalität geronnene Neigung trägt bis heute dazu bei, dass die Linkspartei unfähig ist, eine politische Schlüsselfrage zu beantworten: Will sie im Bund tatsächlich regieren?

Kluge Köpfe wie Michael Brie haben schon vor 20 Jahren versucht, das tönern Schlichte der Frage – Regieren ja oder nein – komplexer zu bearbeiten. Die Formel lautete „radikale Reformpolitik“. Um die Ost-West-Spaltung zu überwinden, plädierte man für einen doppelten Schritt. Im Westen sollte die Partei langsam von unten aus den Städten und Kommunen wachsen. Wenn die Genoss*innen sich dort in Gemeinderäten um Kitas und Feuerwehr kümmern, so die Hoffnung der Ostreformer, würde der abstrakte Radikalismus langsam verdampfen. Im Osten galt es dagegen die Aufgabe zu lösen, nicht weiter als farbloser Mehrheitsbeschaffer für die Sozialdemokratie Dienst zu tun.

Neun Jahre nach Göttingen zeigt sich ein gemischtes Bild. Manches ist eisern gleich geblieben, anderes entdramatisiert, vieles verdrängt worden. Und einiges ist einfach anders gekommen. Die lähmende Spaltung in Ost und West hat für die Bundespartei an Bedeutung verloren. Sie hat, wie vor neun Jahren, rund 60 000 Mitglieder. Das ist jedoch, angesichts der Überalterung der Partei, durchaus ein Erfolg. Was sie im Osten durch den Tod von Mitgliedern verlor, gewann sie im Westen. Die Linkspartei ist somit westlicher und jünger geworden. „Der Anteil von unter 35jährigen Mitgliedern stieg von 24 Prozent auf 27 Prozent der Mitgliedschaft. Bei den Neumitgliedern liegt der Anteil von unter 35jährigen bei 63 Prozent, bei den Austritten bei 43 Prozent; damit verjüngt sich die Mitgliedschaft weiter deutlich“, so der Parteivorstand im November 2020.

Die Partei ist für junge Aktivist*innen attraktiv geworden, denen die Grünen zu bürgerlich sind. Doch die Hoffnung, sich im Westen als politischer Faktor zu etablieren, ist nur in urbanen Milieus, vor allem in Bremen und Hamburg, in Erfüllung gegangen. Dort ist die Partei in der Lage, konkrete Alternativen vor Ort zu formulieren und jener „radikalen Reformpolitik“ tatsächlich nahe zu kommen. Der Leuchtturm der Partei ist weiterhin Berlin, wo sie mit Klaus Lederer über einen Politiker verfügt, der biographisch die alte PDS-Erzählung mit neuem linksreformerischem Schwung vereint. Zugleich ist der Mietendeckel das Paradebeispiel für linke Realpolitik, die per Markteingriff der Mehrheit nutzt (auch wenn es noch das für den Sommer erwartete Urteil des Bundesverfassungsgerichts abzuwarten gilt).

In den westlichen Flächenländern mangelt es dagegen, wie die jüngsten Wahlen in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg gezeigt haben, noch immer an Verankerung. NRW ist mittlerweile zwar der mitgliederstärkste Landesverband der Partei – doch bei Wahlen kommt die Partei auch dort nicht voran. Bei den Kommunalwahlen 2020 verlor die Partei ein Viertel ihrer überschaubaren Wählerschaft und landete bei 3,8 Prozent. Die Antikapitalistische Linke (AKL) forderte daraufhin die „zügige Vergesellschaftung und Verstaatlichung von Erziehung und Bildung, Wohnen, Kultur und Sport“. Auf Niederlagen nicht mit selbstkritischer Überprüfung, sondern mit fundamentalistischer Befestigung von Glaubenssätzen zu reagieren, ist typisch für politische Sekten, die sich vor allem mit den eigenen Reinheitsgeboten befassen. Der AKL-Antrag bekam dennoch – oder gerade deshalb – mehr als 40 Prozent.

Jünger im Westen, solider im Osten, diffuser im Bund

Bei Wahlen im Osten verlor die Linkspartei in den letzten Jahren regelmäßig mehr an die Friedhöfe als an die AfD. Das Bild im Osten ist solide grau, nicht schwarz. Bodo Ramelow führt in Erfurt robust die Regierungsgeschäfte und zeigt, dass Regieren der Linkspartei elektoral nützen kann. Allerdings ist sein politischer Stil, der mitunter wie linker Cäsarismus wirkt, wohl kein kopierbares Modell. In Schwerin, Potsdam, Dresden und Magdeburg steckt die Partei in multiplen Krisen. Mitglieder und Wähler*innen schwinden, die eigene Rolle ist unscharf. Die Wahl am 6. Juni in Sachsen-Anhalt ist für die Linkspartei daher mehr als ein regionales Ereignis – nämlich ein Test, ob der Abwärtstrend gebremst werden kann.

Im Bund verläuft die innerparteiliche Frontlinie heute nicht mehr zentral entlang der Frage Reformer versus Fundamentalopposition; die inneren Spaltungen sind diversifiziert. In der Ära Kipping-Riexinger haben sich zwei Hufeisenformationen gebildet. Ein Teil des alten Reformerlagers um Dietmar Bartsch hat ein Bündnis mit Sahra Wagenknecht geschlossen, die Kapitalismuskritik mit rüden Anklagen des linksliberalen Milieus verbindet. Dieses Hufeisen war zuerst Ausdruck machttaktischer Befriedung und diente der Verhinderung eines neuen Schismas wie in Göttingen. Doch in dem neuen Konflikt, der mit den Schlagworten Identitätspolitik versus Traditionslinker oder soziale Bewegung versus Klassenpolitik grob skizziert ist, haben sich Teile der Reformer auch inhaltlich an Wagenknecht angenähert. Parallel dazu dockten Teile der alten Fundi-Fraktion etwa um Tobias Pflüger im Kipping-Lager an.

Ein neuer Spieler ist dagegen die Bewegungslinke, die mit Marx 21 und der Antikapitalistischen Linken, den alten Truppen der Fundis, verbündet ist und radikalen Klimaschutz und identitätspolitische Forderungen mit Antikapitalismus verknüpft. Diese Strömung ist ein echter Machtfaktor. Beim Parteitag im Februar setzte sie bei der Wahl des erweiterten Vorstands eigenes Personal durch und bescherte dem geschrumpften Wagenknecht-Anhang empfindliche Niederlagen. Wagenknecht verliert an Einfluss, auch weil sie lieber Kolumnen für den „Focus“ schreibt, als sich im Bundestag oder auf Parteitagen blicken zu lassen.

Wagenknechts Bedeutungsverlust sollte man aber nicht mit einem Plus an Regierungsfähigkeit verwechseln. Das Bild der Partei ist vielschichtig, fast verwirrend. Sie befindet sich in einer paradox anmutenden Lage: Obwohl sie keine Volkspartei klassischen Typs ist, die Arbeitslose und Gutverdiener, Bauern und Banker anspricht, hat sie das Problem einer Volkspartei in einer individualisierten Gesellschaft: die wachsende Unverträglichkeit von Milieus, die sie zu repräsentieren versucht.

An wen wendet sie sich vor allem? Treuherzige Beschwörungen der alten und neuen Parteispitze, man stehe für Fridays for Future, aber auch für die Gewerkschaften, für radikalen Antirassismus, aber auch für Hartz-IV-Empfänger*innen, verdecken die neuen Bruchlinien nur notdürftig. Der Streit um Identitäts- versus Klassenpolitik wird zudem mit einem für Linke typischen Weltanschauungsfuror ausgetragen. Das zeigt nicht zuletzt Sahra Wagenknecht neues Buch „Die Selbstgerechten“, eine scharfe Abrechnung mit innerparteilichen Kritiker*innen.

Dieser Konflikt ist beides: ein in Feuilleton-Debatten zugespitzter Diskurs und ein realer Konflikt. Politische Parteien können in identitätspolitisch aufgeladenen Konflikten, wie die Thierse-Debatte in der SPD zeigt, viel verlieren, aber nur wenig gewinnen. Es gilt daher zu moderieren, Personal für verschiedene Milieus anzubieten, die intern friedlich koexistieren.

Große strategische Versäumnisse

Die Linkspartei ist jedoch noch immer weit davon entfernt, eine organisch verbundene Synthese auseinanderstrebender Milieus zu verkörpern. Im Wahljahr 2021 werden nun die strategischen Versäumnisse der vergangenen Jahre sichtbar. Die Kräfte, die praktische Reformpolitik anstreben, finden sich in verschiedenen mehr oder weniger zerstrittenen Gruppen wieder.

Zwar gibt es seitens der Parteichefin Susanne Hennig-Wellsow keinen Mangel an Ankündigungen, eine Mitte-links-Regierung anzustreben. Doch ein steuerndes Zentrum, das die Partei regierungsfähig machen könnte und dafür auch den Konflikt mit sektiererischen Gruppen riskiert, existiert nicht. Nun rächt sich auch, dass die Regierungswilligen jahrelang die Außenpolitik ihren Gegner*innen überlassen haben. Dort prägen Sevim Dağdelen, Heike Hänsel und Andrej Hunko das Bild. Ein affirmatives Russland-Bild, kanonisierte USA-Kritik als „Reich des Bösen“ und der Rückzug aller Bundeswehrsoldaten auch aus friedenserhaltenden Einsätzen sind hier Dogmen, an denen grün-rot-rote Verhandlungen schnell scheitern würden. Paul Schäfer, bis 2013 Außenpolitikexperte der Linkspartei im Bundestag, hat kürzlich in der taz angemerkt: „Die Alles-oder-nichts-Debatten in der Partei wirken wie Glaubenskriege. Wenn es um Russland, China oder andere autoritäre Regime geht, scheint bei manchen immer noch zu gelten: Der Feind meines Feindes ist mein Freund. Zur Glaubwürdigkeit einer linken Partei gehört, dass die universellen Menschenrechte Basis des Handelns sein müssen.“ Doch hier kommt die Linkspartei keinen Millimeter voran. Der linke Flügel steckt geistig in einem verholzten Antiimperialismus fest, der unbrauchbar ist, um die multipolare Welt des 21. Jahrhundert zu verstehen. Die für das Regieren offene Fraktion hat dagegen die Außenpolitik vernachlässigt und keine Erzählung entworfen, die die Tradition als Friedenspartei mit einer realistischen außenpolitischen Agenda verbinden würde. Stefan Liebich, einsamer Realo in der Außenpolitik, hat seinen Job als Politiker inzwischen an den Nagel gehängt. Es spricht viel dafür, dass Matthias Höhn, der nun energisch eine realistische Außenpolitik einfordert, als sein Nachfolger eine ähnliche Rolle spielen wird: verdienstvoll und vergeblich. Der Parteitag ließ Höhn jedenfalls als Vizechef durchfallen und wählte lieber Tobias Pflüger, der mit den immer gleichen Textbausteinen eine fundamentaloppositionelle Trutzburg befestigt. Dabei könnte die Linkspartei, würde sie danach suchen, derzeit recht viel Übereinstimmung ihrer friedenspolitischen Grundideen mit der SPD finden, vor allem mit Fraktionschef Rolf Mützenich. Ein Abzug der Atomwaffen und eine reale, und nicht wie so oft nur angekündigte, Reduzierung der Waffenexporte könnte ein grün-rot-rotes Konsensprojekt werden.

Ernsthafte Versuche in Richtung einer Mitte-links-Regierung scheiterten bislang verlässlich an der SPD. 2021 sieht die Lage anders aus. Die SPD scheint sich einer Mitte-links-Regierung nicht mehr zu verschließen. Doch die Grünen wollen lieber mit der Union – und die Linkspartei hat die nötigen Klärungsprozesse versäumt. Dass drei Viertel ihrer Wähler*innen eine Regierungsbeteiligung befürworten, wie Umfragen verlässlich zeigen, spielt in den Selbstverständigungsdebatten der Partei eine erstaunlich nebensächliche Rolle.

So haben wir es mit einem irritierenden Widerspruch zu tun: Ein Sieg der Union scheint unsicher; die Lage ist volatil. Die Korruptionsfälle und Merkels Abtritt könnten das kaum Vorstellbare möglich machen: eine Regierung ohne CDU/CSU. Ein Mitte-links-Bündnis könnte auch dafür sorgen, dass bessere Bezahlung von Pflege und Carejobs nicht nur Sonntagsreden bleiben. Inhaltlich ist eine ökosoziale Regierung in Kernfragen wie Wirtschaft und Finanzen weit plausibler als eine Ampel, in der sich in diesen Bereichen Kompromisse zwischen SPD und FDP nur als Verrat oder Kapitulation vorstellen lassen. Auch die Renaissance des Nationalstaates, der in der Krise der einzig verlässliche Akteur ist, öffnet Möglichkeiten für eine Mitte-links-Regierung.

Doch ideologische Halsstarrigkeit eines Teils der Linkspartei und Mangel an strategischem Weitblick der Regierungswilligen lassen es unwahrscheinlich erscheinen, dass solche linken Antworten tatsächlich real werden. „Die Wahlen im Jahr 2021 könnten darüber entscheiden, ob staatliche Politik ihre Gestaltungsräume gegenüber Marktprozessen und wirtschaftlicher Macht nutzen will und in welcher Richtung dies erfolgen soll. Die politische Grundkonstellation hat sich für linke Antworten weit geöffnet“, stellt der scharfsinnige Horst Kahrs von der Rosa-Luxemburg-Stiftung fest. Aber anstatt die Chance zu nutzen, bewirbt sich die Linkspartei bereits jetzt in dem blame game, an wem eine Mitte-links-Regierung scheitern musste, zielstrebig um den ersten Platz. Und bleibt damit, wieder einmal, unter ihren politischen Möglichkeiten. Für progressive Politik sind das keine guten Aussichten.

02.04.2022