Ein Schritt zurück, ein Blick nach vorn

Alban Werner


Gibt es eine strategiefähige Linke in Deutschland? Versuch, mit größerem Abstand zum Geschehen über die Anforderungen an eine linkssozialistische Partei unter den heutigen Verhältnissen nachzudenken. Dritter Eintrag im „Tagebuch des Umbruchs“.

I. Ein Beobachtungsstandort für die Debatte

Es hatte mich zunächst kalt gelassen, als die Führung der LINKEN die Parteibasis zur Einsendung von Beiträgen für eine ‚Strategiedebatte‘ aufgerufen hatte. Wie ein Genosse kürzlich in einer größeren Runde lapidar bemerkte, finden Strategiedebatten üblicherweise in der Mitte einer Legislaturperiode statt. Sie werden in Gang gesetzt, nachdem sich neue Kräfteverhältnisse innerhalb von Fraktionen, Landesgruppen und Vorständen gefunden haben und bevor diese durch die nahende nächste Wahl in Aufruhr versetzt werden. Ihre Wirkung ist in der Regel begrenzt, denn nachweisbare große Änderungen an Ausrichtung, Auftreten und Personal treten nur selten als Folge solcher Diskussionen ein.

Ein zweiter Einwand aus derselben größeren Runde lautete, dass der Modus, indem die Debatte vollzogen wird, ein Ausdruck der Schwäche und Unentschiedenheit ist. Was soll bei einer Aufforderung ‚von oben‘ in die Gesamtheit der über 60.000 Parteimitglieder hinein anderes herauskommen als ein insgesamt unübersichtliches Stimmengewirr, aus dem sich wenig kohärente Linien, schon gar keine kompakten Handlungsanweisungen herauslesen lassen? Ein dritter Einwand eines anderen Genossen außerhalb der großen Runde ist ebenfalls stichhaltig: Die bereits eingetroffenen Beiträge zu dieser Debatte überfliegend bemerkte er lakonisch, dass die allermeisten Beitragenden ihre Texte 2019/2020 nicht anders verfasst haben, als sie bei Abfassung in 2005, 2010 oder 2015 geklungen hätten.

Weil ich große Zweifel habe, ob bzw. inwieweit DIE LINKE überhaupt strategiefähig ist, ist das Nachfolgende ausdrücklich kein Beitrag zur bereits laufenden Strategiedebatte der Partei. Vielmehr trete ich mit meinem Erkenntnisinteresse hinter das aktuelle Handgemenge einen Schritt zurück, um mit größerem Abstand zum Geschehen sehen oder zumindest erahnen zu können, wie die Anforderungen an Strategiefähigkeit einer linkssozialistischen Partei unter den heutigen Verhältnissen sich eigentlich darstellen (soweit sie denn schon erkennbar sind). In der Definition der beiden Strategiepäpste der deutschen Politikwissenschaft Joachim Raschke und Ralf Tils sind Strategien „alle erfolgsorientierten Konstrukte, die auf situationsübergreifenden Ziel-Mittel-Umwelt Kalkulationen beruhen. Je nach strategischer Einheit ergeben sich kurz-, mittel- oder langfristige Strategien“.

Damit ist bereits ein Grundproblem angesprochen. Strategiedebattenbeiträge arbeiten oftmals mit der Annahme einer Partei, die in der Lage sie, sich in erster Linie auf die Verfolgung langfristiger Ziele zu verpflichten. Damit sehen solche Beiträge aber unzulässigerweise von unvermeidlichen alltagsstrukturellen und personalpolitischen Anliegen und Absprachen ab, die sich im Vorlauf von Wahlen in den Vordergrund der Parteiarbeitsrealität schieben, – etwa: „Bekommt die/der Abgeordnete wieder einen aussichtsreichen Listenplatz?“; „Behält auch im ungünstigeren Fall der Kreisverband sein Büro?“; „Wer kommt für die Wahlkampfkosten auf?“ usw. Die Frage, ob eine Partei sich als strategiefähig erweist, ist deswegen von ihren Strukturen und den Motivationslagen ihrer Mitgliedschaft nicht zu trennen.

Noch wichtiger ist aber etwas Anderes: Die Strategie einer Partei muss zum Anforderungsprofil passen, das sich für ihre Aufstellung im Lichte ihrer Ziele durch die politische Lage ergibt. Nur auf Grundlage dieses Profils lassen sich die Kalkulationen vornehmen, die Raschke und Tils in ihrer o.g. Definition voraussetzen und allein in Kenntnis dieser Anforderungen lässt sich ein realistisches Bild davon zeichnen, welchen Umfang an politischer Leidenschaft, Nüchternheit, Kooperations- und Opferbereitschaft sowie an kollektiv zu organisierender womna- und manpower diese Kalkulationen eigentlich voraussetzen. Ohne solche Vergewisserung bleibt jede Diskussion ein letztlich folgenloser Austausch von Papieren.

II. Äußere Anforderungen

Mittel- und langfristig werden die Handlungsfelder von Parteien in Deutschland von mindestens sechs Konstellationen geprägt, die entsprechende Anforderungen an Problemdeutungs- und Lösungsfähigkeiten nach sich ziehen. Ich referiere sie hier in ‚absteigender‘ Folge von globaler bis lokaler Ebene.

Das erste Handlungsfeld ist die unübersichtliche Konstellation in der internationalen Politik. Wenn man den Erfahrungshorizont aller Generationen von AktivistInnen abschreitet, die sich in der LINKEN versammeln, erleben wir mittlerweile die vierte Anordnung außenpolitischer Problem- und Konfliktlagen. Einige erinnern sich noch an den Kalten Krieg mit seinen Rüstungswettläufen, ‚Stellvertreterkriegen‘, ferngesteuerten Regimen usw. Darauf folgte eine zweite Phase, in der die USA alleinige Weltmacht und deren Eliten von einiger Hybris hinsichtlich der Erfolgsaussichten ihrer Politik befallen waren. Diese Phase wird abgelöst durch einen bis heute anhaltenden ‚Kater‘, den das offenkundige Misslingen des Irak-Krieges von 2003 ausgelöst hat. Mit dem Ausbruch des syrischen Bürgerkrieges und den damit zusammenhängenden Fluchtbewegungen, aber auch mit dem neuen geopolitischen Selbstvertrauen Russlands, dem autoritären Präsidialregime in der Türkei, dem unverkennbaren Weltmachtstatus Chinas und den grassierenden nationalistischen Regierungen auf allen Kontinenten wurde unübersehbar die vierte Phase eingeläutet. Um ihr Schiff in diesen stürmischen Gewässern zu navigieren, fehlt der LINKEN bislang das Konzept.

Nötig wäre eine ‚linke Weltordnungspolitik‘, die sich stärker auf geopolitische Interessensgegensätze und Schattierungen einlassen müsste, als es DIE LINKE bislang auch nur zu erwägen bereit ist. Stattdessen regiert in der Partei eine eigentümliche Schizophrenie, wonach wahlweise Russland oder den USA mehr ‚realpolitische‘ Spielräume und Motivlagen in der moralischen Grauzone zugestanden werden, als sie jemals für die deutsche oder europäische Außen- und Sicherheitspolitik für legitim erachtet würden. Anders ausgedrückt: Ausgerechnet unter radikal veränderten Bedingungen fällt bei vielen Linken das Bewertungsraster der Außenpolitik auf den Stand des Kalten Krieges mit seinen unverrückbaren Loyalitäten zurück. Um einen Beitrag zur Entspannung der vielfach angespannten Konstellationen zu leisten, wird es aber nicht reichen, durch die Brille des Kalten Krieges zu schauen oder sich als Politikersatz an die bisher felsenfesten linken Grundsätze der Absage an jegliche Militäreinsätze oder Waffenexporte zu klammern.

Das zweite Handlungsfeld ist die ungleiche und kombinierte Entwicklung auf europäischem und internationalem Terrain. Die Eurokrise 2010 ff. hat aufgezeigt, welche gewaltigen Effekte für die innergesellschaftliche Verhältnissen aus dem Zusammenwirken ungleicher Akkumulationspfade resultieren. Diese Prozesse sind zum einen ungleich, weil die verschiedenen, nationalstaatlich verfassten Gesellschaften sich auf unterschiedlichen Entwicklungspfaden und -stufen ihrer Produktionsverhältnisse und Produktivkräfte befinden. Das Umfeld ökonomisch und politisch stärkerer Länder im internationalen Umfeld zwingt die ‚aufholenden‘ Ländern einerseits zu Produktivitätsfortschritten, andererseits können diese die früheren Fehler der stärkeren Länder vermeiden und Schritte und Stufen überspringen. Darüber wird die Entwicklung zum anderen unvermeidlich auch kombiniert, weil nun innerhalb der Länder verschiedene Produktionsweisen zugleich wirken und sich Rückwirkungen der ‚aufholenden‘ auf die ‚vorausgegangenen‘ Länder ergeben. Unterm Strich ergibt sich ein Wirkungsknäuel mal sich wechselseitig verstärkender, mal sich neutralisierender, mal sich ungeahnt durchkreuzender Produktionsverhältnisse und Produktivkräfte über nationale Grenzen hinweg.

Die betrifft auch das Fallbeispiel auf dem europäischen Feld der Sorge- und Betreuungskette. Die Auflösung familiastischer Orientierungen in Deutschland bei gleichzeitig fehlender geschlechtergerechter Arbeitsteilung und Betreuungsinfrastruktur führt dazu, dass Frauen aus Osteuropa hierzulande unter prekären Bedingungen diese Betreuungslücke füllen. Dass sie sich damit rein finanziell gesehen besserstellen als auf dem heimischen osteuropäischen Arbeitsmarkt, ist dem immer noch beträchtlichen innereuropäischen Lohngefälle geschuldet. Dass der hiesige Gewinn (‚care gain‘) in den osteuropäischen Entsendeländern wiederum Lücken erzeugt (‚care drain‘), die aufgrund dort vorherrschender Geschlechternormen nicht etwa von den Vätern, sondern den Großmüttern geschlossen werden, zeigt, wie wenig die innergesellschaftlichen und zwischengesellschaftlichen Machtasymmetrien und Ausbeutungsverhältnisse durch das überkommene Begriffsraster von ‚Haupt- und Nebenwiderspruch‘ heute noch zu verstehen und zu bearbeiten sind.

Aber genau zu dieser Deutungsschablone und der Sozialfigur des ‚Arbeiters‘ als heiligem Gral meinen viele Linke unter Eindruck rechtspopulistischer Wahlerfolge zurückfinden zu müssen. Dabei sind zwei gegen die Deutungsangebote der Rechtspopulisten gerichtete Schlussfolgerungen dringlicher: Erstens verzeichnete der Nordwesten Europas– trotz ordentlicher Entwicklungen in den letzten drei Jahren – im Trend noch zu geringe Lohnkostensteigerungen bemessen am Produktivitätswachstum. Auf diese Weise wurden im Süden Aufholprozesse erschwert und gingen Marktanteile verloren, so dass es zu EU-internen Migrationsprozessen kam und kommt. Solche ausbeuterischen Gefälle abzubauen sollte einer Linken im Herzen der europäischen Vormacht Auftrag und Verpflichtung sein. Zweitens greift die altbekannte, festgefahrene EU -Debatte in der LINKEN zu kurz. Denn wenn auch die Verfasstheit von EU und Euro die beschriebenen Phänomene in ihrer Wirkung verschärften und ihre Bearbeitung durch zahlreiche Vorschriften, Veto-Spieler und Absicherungen deutscher Vormacht erschwerten, so sind sie weit davon entfernt, alleinige Ursache gewesen zu sein.

Das dritte Handlungsfeld ist das Verhältnis zwischen tieferliegenden Entwicklungen und kurzfristiger politischer Erregung. In der Politik sind Ressourcen immer begrenzt, nicht zuletzt die Zeit. Verstärkt durch die ineinander verschachtelte Spiegelung von sozialen Medien und Massenmedien ist politische Aufmerksamkeit mit immer schnelleren und kürzeren Abständen in aufeinander folgenden Schüben mobilisierbar. Politische Energie wird vor allem bei leicht zu moralisierenden Themen zunehmend auf schnell auszulösende Empörungswellen aufgewendet. Natürlich sind weder schnelle Reaktionsfähigkeit noch moralische Empörungsfähigkeit per se ein Defizit. Ohne den Impuls der Empörung gegenüber herrschenden Verhältnissen ginge ein lebenswichtiger Antrieb linker Politik verloren. Allerdings kann auch gerechtfertigte Empörung sich von ihren Entstehungsgründen ablösen und sich in eine autistische Ersatzhandlung für Politik verselbstständigen. Sie kann dazu führen, sich nur noch an eingängigen, periodisch auftauchenden Feindbildern abzuarbeiten und dabei den Ton eines moralischen Absolutismus anzuschlagen. „Auch der Hass gegen die Niedrigkeit verzerrt die Züge. Auch der Zorn über das Unrecht macht die Stimme heiser.“ (Bertolt Brecht)

Ärgerlich ist das nicht nur, weil die höhere Lautstärke eher dazu geeignet ist, bislang Unorganisierte abzuschrecken, statt sie anzuziehen. Die Dauerempörung betäubt auch das Wahrnehmungsvermögen dafür, ob die je aktuelle Verflüssigung der Verhältnisse als Krise, Skandal, Verunsicherung, Institutionenversagen usw. nur Ausdruck eines handelsüblichen Erregungszyklus ist oder aber ob sie eine Gelegenheit für fortschrittliche Veränderung oder immerhin die Aufhaltung von Rückschritten darstellt. Neben der Empörungsfähigkeit ist es mindestens ebenso wichtig, den Blick dafür einzuüben und zu schärfen, wo „im Schoß der alten Gesellschaft selbst“ die Voraussetzungen für „höhere Produktionsverhältnisse“ ausgebrütet werden (Marx). Der Blick auf Keime des Fortschritts im Bestehenden kann also in ein Spannungsverhältnis zur Empörungsbereitschaft geraten. Viele Linke lösen dieses Spannungsverhältnis aber leider darüber auf, es bei der Empörung zu belassen.

Das vierte Handlungsfeld ist die Vielfalt neuer politischer Farbanordnungen. Anfang 2020 gibt es im Bundesrat je nach Zählweise acht oder zwölf unterschiedliche Anordnungen in den politischen Farben der Landesregierungen: Grün-Schwarz (Baden-Württemberg), Schwarz-Grün (Hessen), Blau-Orange (Bayern), Rot-Rot-Grün (Berlin, Bremen), Dunkelrot-Rot-Grün (Thüringen), Rot-Grün (Hamburg), Rot-Schwarz (Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen), Schwarz-Rot (Saarland), ‚Kenia‘ (Sachsen, Sachsen-Anhalt, Brandenburg), ‚Ampel‘ (Rheinland-Pfalz), Schwarz-Gelb (Nordrhein-Westfalen) und ‚Jamaica‘ (Schleswig-Holstein). Die allseits beklagte geringe Beweglichkeit der deutschen Politik folgt eben nicht nur daraus, dass hier und da Dünnbrettbohrer an Werk sind. Sie ist auch nicht nur Folgewirkung des berühmten Merkel’schen auf-Sicht-Fahrens. Vielmehr resultiert sie auch daraus, dass die volatileren Wahlergebnisse auf Landesebene keine frühere Hochburg der ehemaligen Volksparteien unberührt gelassen haben.

Alleinregierungen sind vollständig verschwunden, auch ‚lager-kongruente‘ Mehrheiten sind perdu. Dementsprechend verändert sich auch der Korridor für Gesetze, die zu ihrer Verabschiedung der mehrheitlichen Zustimmung des Bundesrats bedürfen. Hinreichend große Schnittmengen zur Verabschiedung von Gesetzen müssen jetzt noch aufwendiger gesucht, austariert und ggf. mit Koppelgeschäften ‚erkauft‘ werden. Damit vergrößert sich noch der Bedarf nach ‚Powerbrokern‘ und ’Ausputzern‘ für Deals, Hinterzimmerabsprachen oder – man erinnere sich an das Abstimmungsverhalten von Thüringen und Berlin gegenüber der Autobahngesellschaft – Druckszenarien. Angela Merkel mag bereits im Modus eines ‚Abschieds auf Raten‘ sein, aber das mit ihr eng verbundene politische Methodenarsenal der Aushandlung erweist sich selbst unter den Bedingungen gestiegener politischer Polarisierung als quicklebendig. Eine fortschrittliche Politik muss unter diesen Umständen prüfen, welche ihrer Ziele noch offensiven, welche eher bereits defensiven Charakter haben – und das gilt gleichgültig, ob sie ihre Kritik an den herrschenden Verhältnissen eher verschärfen oder abmildern will. Sie muss (selbstredend mit Ausnahme der AfD, die weiterhin auszugrenzen unumstritten ist) ehrlich prüfen, welche politischen ‚Reinheitsgebote‘ weiterhin plausibel sind und welche sich bei Lichte betrachtet überlebt haben. Sei es, weil man es heute mit der CDU von AKK und Merkel und nicht mehr mit derjenigen Kohls und Dreggers zu tun hat. Sei es, weil nach wie vor die Brecht’sche Regel gilt, dass weder beliebig kompliziert zusammengesetzte Parlamente auflösen, noch sich ein anderes Volk wählen kann oder auch nur zu können wünschen sollte. Interessanterweise müssten gerade diejenigen, die sich vehement auf die Anliegen von Gewerkschaften und sozialen Bewegungen berufen, für ein pragmatisches Verhältnis gegenüber allen Parteien außer der AfD plädieren. Denn ob es sich um Kommunen, die Landes-, die Bundes- oder die europäische Ebene handelt: Soziale Bewegungen und Gewerkschaften tragen ihre Anliegen den Parlamenten und Regierungen unabhängig von deren Zusammensetzung vor – was bliebe ihnen auch anderes übrig? Auf kommunaler Ebene waren selbst zu Zeiten der PDS schon punktuelle oder dauerhafte Kooperationen mit der CDU gang und gäbe. Im Lichte der skandalösen Entwicklung in Thüringen Anfang Februar muss man noch unterstreichen: Wer völlig zu Recht von FDP und Unionsparteien einfordert, eine demokratiepolitische ‚Bannmeile‘ um die AfD rigide einzuhalten, muss folgerichtig gegenüber diesen Parteien gesprächsoffen sein. Die neue parteipolitische Farbenvielfalt in Parlamenten und Regierungen ist an DIE LINKE ein Aufruf, das methodische Arsenal und die AnsprechpartnerInnen ihrer Politik zu erweitern. Anders wird es nicht gelingen, aus der Unordnung komplizierter Wahlergebnisse ein Maximum an fortschrittlicher Politik rauszuholen und an rückschrittlicher Politik zu verhindern.

Das fünfte Handlungsfeld betrifft den Umgang mit der neuen Beweglichkeit in Vorhof und Hinterland politischer Vorgänge. Diese kommt darin zum Ausdruck, dass inzwischen auch Ökonomen des neoklassischen BDI eine Aufweichung oder Abschaffung der ‚Schuldenbremse‘ verlangen; dass BDI und DGB einmütig ein 100 Milliarden Euro schweres Investitionsprogramm fordern; dass die Bundesrepublik als einziges industriekapitalistisches Land der Welt den Ausstieg aus Atomenergie UND Kohleverstromung beschließt; dass der FDP-Ruf nach deregulierenden Arbeitsmarktreformen von den anderen Parteien ignoriert wird; dass hohe Tarifabschlüsse im verarbeitenden Gewerbe und im öffentlichen Dienst kaum auf nennenswerte Kritik stoßen; dass die vorsintflutlichen Ausbeutungsverhältnisse im Logistikbereich von niemandem mehr bestritten werden; dass selbst der ‚Seeheimer Kreis‘ in der SPD die gewachsene soziale Ungleichheit zum Problem erklärt. Offenbar hat sich das Kräfteverhältnis auf der Ebene politisch-ökonomischer Ideologien beträchtlich verschoben.

Gegenüber dieser Konstellation produziert eine linke Haltung, die – sich an die Konfliktverläufe aus den ‚Nuller-Jahren’ klammernd – ständig vor einem allgegenwärtigen und beinahe allmächtigen Neoliberalismus warnt, nur Hilflosigkeit und fragwürdige Zombie-Feindbilder. Einerseits erzeugt das ständige Einklinken in mediale Empörungsschleifen unfruchtbare Schlagabtausche und verstellt den Blick auf emanzipatorische Potentiale in den ‚molekularen‘ gesellschaftlichen Verhältnisse. Andererseits bewirkt die Beschwörung überholter Frontverläufe, dass man sich auf dem beweglicher gewordenen Gelände der Politik erst recht verirrt.

Ein wichtiges Gelegenheitsfenster ergibt sich für fortschrittliche Politik etwa durch zwei tendenziell ‚säkulare‘ Entwicklungstendenzen auf der Angebotsseite des Arbeitsmarktes. Zum einen führt der demographisch bedingte relative Rückgang an Arbeitskraftangebot in zunehmend mehr wirtschaftlichen Sektoren dazu, dass der Arbeitsmarkt von einem Arbeitgeber- zu einem Beschäftigtenmarkt wird. Zum anderen steigen in etlichen Berufsbildern die Anforderungen an technische und auf Mitmenschen gerichtete interaktive Sozialkompetenzen. Beides zusammen schiebt die Arbeitgeber in eine größere Abhängigkeitsposition gegenüber den Entscheidungen der Politik über Schwerpunkte und Ausgaben im Aus- und Weiterbildungsbereich. Doch obwohl hier ein potentiell mächtiger ‚Hebel‘ sitzt, um Arbeitsbedingungen und -einkommen zu verbessern, wird über dessen sinnvollen Einsatz nur wenig diskutiert.

Das sechste Handlungsfeld umfasst die Problemverdichtungen in den ‚alltagsnahen‘ Bereichen Verkehr, Wohnen und Energie. Dass in diesen drei genannten Bereichen in jüngster Zeit symbolische und materielle Erfolge für die Linke gelungen sind, hängt eng mit der zugespitzten Überlagerung verschiedener Problemkomplexe zusammen. Von überragender öffentlichkeitswirksamer Bedeutung ist die Klimapolitik, die im Bemühen um Verringerung des CO2-Ausstoßes den Umstieg auf emissionsärmere Verkehrsmittel, Bauweisen und Energieerzeugung vorantreibt – oder zumindest der Öffentlichkeit vorgeben muss, es zu tun. Darüber hinaus ergibt sich durch den bereits erwähnten Verzicht auf Atom- und Kohleverstromung die Notwendigkeit, Versorgungssicherheit bezahlbar und ökologisch zu gewährleisten. Schließlich konzentrieren sich die Handlungsbedarfe aller drei genannten Bereiche in den urbanen Zentren, in denen sich aufgrund der verschärften Abwanderung aus wirtschaftlich prekären Regionen immer mehr EinwohnerInnen – und damit WählerInnen – sammeln.

Es wird etwa ein spannendes Live-Experiment werden, wie lange sich Stadtratsmehrheiten in wachsenden Regionen oder Landesregierungen gleich welcher Couleur noch gegen Forderungen nach Mietendeckeln und anderen Regulierungen des Wohnungsmarktes werden sperren können, ohne ihrer Mehrheit verlustig zu werden. Andersherum ist auch fraglich, wie lange der politisch sabotierte Ausbau von Sonnen- und Windenergie noch weitergehen kann, bis die Versorgungssicherheit gefährdet ist. Beim Verkehr schließlich ist die Art und Weise des innerparteilichen Umgangs mit der populären Forderung nach Entgeltfreiheit des ÖPNV problematisch. Es gibt Argumente für entgeltfreien ÖPNV, aber die Bezeichnung als ‚kostenlos‘ verdeckt die damit verbundenen Schwierigkeiten bei der Angebotsfinanzierung und bei den Verteilungswirkungen. Zudem entspricht der Fixierung auf Entgeltfreiheit, dass die wichtigen Fragen von Reichweiten, Kapazitäten und Platzkonkurrenz in den Hintergrund treten. In einer Übergangszeit wird sich die Platzkonkurrenz zwischen Pkws, Fahrrädern und öffentlichen Verkehrsmitteln aber noch verschärfen, wenn auf einer Spur gebaut werden muss.

Zudem ist die Grundsatzfrage nicht beantwortet, ob man nicht offen und ehrlich eine noch stärkere Subventionierung des nicht-urbanen Raums sowie seine Bevorzugung bei Ansiedlung neuer Arbeitsplätze und Erholungsanlagen einfordern sollte, um die wachsenden Großstädte und ihre Peripherie zu entlasten. Die Subventionierung ist dabei vor allem eine finanzielle, aber keine erfahrungsweltliche, denn man wird die urbanen Räume nicht uferlos nachverdichten können, ohne dass die Lebensqualität aufgrund ständig überlaufener Restaurants, Busse und Straßenbahnen, Arztpraxen und Supermärkte abnimmt.

III. Interne Konsequenzen

Welche Anforderungen werden nun an linke Parteipolitik gestellt? Wichtige positive Anforderungen und Verpflichtungen haben sich bereits anhand der genannten Problemkonstellationen aufgedrängt: die Erarbeitung eines Konzepts einer linken Weltordnungspolitik, die Entwicklung von Instrumenten und Mechanismen zur Verringerung des internationalen und europäischen Ausbeutungsgefälles, Blickschärfung für und die Aneignung von Fortschrittskeimen in der bestehenden Gesellschaft, die Erweiterung von politischen Methoden und von Bündnisoptionen im Lichte der neuen Unübersichtlichkeit, die Aufspürung politischer Gelegenheitsfenster und der aktive Umgang mit komplex-verflochtenen, konfliktbeladenen Umbaunotwendigkeiten. Für die innere Aufstellung einer linken Partei aber nicht weniger bedeutsam ist es, nachfolgende dysfunktionale Neigungen in ihrem Gewicht zu reduzieren.

  • Verdrängung von Konflikten und Klärungen: In wichtigen politischen Auseinandersetzungen ist DIE LINKE wenig handlungs- und ausstrahlungsfähig. Problemstellungen in der europäischen Integration, der Migration und der internationalen Politik werden entweder ad infinitum verschoben oder durch Formelkompromisse nur vorübergehend befriedet. Das verunmöglicht schon im Ansatz, in mittel- und längerfristigen Zeiträumen zu denken und daran politische Praxis zu orientieren.
  • Flatrate-Denken: Was in der voreiligen Konzentration auf Forderungen nach Entgeltfreiheit im öffentlichen Nah- und Fernverkehr, sowie im seltenen Ruf nach Qualitätsverbesserungen in Kitas gegenüber dem ständigen Ruf nach Gebührenbefreiung zum Ausdruck kommt, zeigt sich auch in der starken Fokussierung auf Mindestsicherungen bei Arbeitslosigkeit und Alter. So notwendig die Abschaffung von Hartz IV oder die Anhebung von Mindestrenten auch sind – für linke Politik ist das nicht hinreichend. Die ‚Flatrate‘-Maßnahmen erweisen sich jedoch intern als weniger kontrovers als die Diskussion darüber, wie die gegenüber den Mindestsicherungen logisch vorrangigen Arbeitsplätze und die von ihnen abgeleiteten gesetzlichen Renten zu schaffen bzw. zu gewährleisten sind.
  • Hartnäckige Abhängigkeit von Feindbildern: Vor allem in den alten Bundesländern ist die Partei zu einseitig darauf geeicht, sich in Abwehr gegen Verschlechterungen zu mobilisieren, die eintreten oder die man am Horizont erkennbar glaubt. Nichts mobilisiert Linke wirksamer als Feindbilder und Bedrohungsszenarien. Weniger Energie hingegen wird leider auf die notwendige Aufgabe gerichtet, initiativ und kreativ ein Agenda-Setting zur fortschrittlichen Umgestaltung der Verhältnisse zu betreiben und dahinter BündnispartnerInnen zu versammeln.
  • Identitäten: Mit der Gründung der sog. ‚Bewegungslinken‘ als offizieller neuer Strömung ist ein Prozess zum vorläufigen Abschluss gekommen, der im Lichte heutiger Anforderungen eher einen Rückschritt bedeutet. Die neue Strömungslandschaft in der Partei bedeutet nämlich, dass inhaltliche Fragen noch untrennbarer mit Personalpolitik verschmolzen wurden, was Sachkonflikte umso unversöhnlicher macht. Überdies signalisiert bereits die Namensgebung der ‚Bewegungslinken‘, dass eine bestimmte politische Methode als per se vorzuziehende Vorgehensweise mit höherer Erfolgswahrscheinlichkeit bei der Umsetzung linker Vorhaben gedeutet wird. Im Zuge dessen werden Mitglieder einseitig auf eine Methode sozialisiert, rekrutiert und mobilisiert.

IV. Schluss

Mit der Strömungsarchitektur ist nicht nur auf die dominante Organisationsform politischer Anliegen innerhalb der LINKEN, sondern auch auf ihr grundlegendes Strukturproblem hingewiesen. Denn heute sind die Strömungen die einzige Struktur innerhalb der Partei, die vertikal den Alltag politischer Praxis mit den Entscheidungen der Führungen folgewirksam verbindet. In den originären Parteistrukturen hingegen fehlen diese prägenden Vernetzungen auf breiter Flur, sogar in wichtigen politischen Sachbereichen wie Wirtschaft und Finanzen. Das wirft bei einer aus verschiedenen Quellorganisationen entstandenen und unterschiedlichste Richtungstraditionen beherbergenden Partei die Frage auf, wie viel Identifikation und Loyalität die Ordnungsgröße ‚DIE LINKE‘ tatsächlich stiftet. Zumindest in den alten Bundesländern, aber auch auf der Aggregationsebene von Bundesparteitagen drängt sich oft der Eindruck auf, dass DIE LINKE eine ‚Notgemeinschaft‘ darstellt, die nur durch die allgegenwärtige Drohung der Fünf-Prozent-Hürde und den ideologischen Kitt des Feindbilds ‚Neoliberalismus‘ zusammengehalten wird. Unter einem anderen Wahlsystem würde die Partei vermutlich als solche nicht existieren, sondern wahrscheinlich – ähnlich ‚Unidos Podemos‘ in Spanien oder dem früheren ‚Front de Gauche‘ in Frankreich – als Zusammenschluss gemeinsam bei Wahlen antretender, ansonsten aber selbstständig arbeitender Organisationen. Das hätte immerhin den Vorteil, dass die wahlbezogenen Absprachen und ‚Deals‘ auch unverschämt als solche benannt werden könnten, und deren Ergebnis wäre für alle als Abbild der zwischen-verbandlichen Kräfteverhältnisse sichtbar. Man kann das sicherlich zynisch finden. Aber ist es zynischer als die hochgradig vermachtete, nur nachrangig von Sachfragen dominierte Realität von Parteitagen, die dem Selbstbild eines basisdemokratischen, ‚freien Spiel der Kräfte‘ schon lange Hohn sprechen?

Im Hinblick auf die Strategiedebatte würde dies aber bedeuten, dass DIE LINKE den dritten, vielleicht sogar den vierten Schritt vor dem ersten und zweiten macht. Noch einfacher als oben ausgedrückt ist Strategie nämlich definiert als ‚vom Ende her zu denken‘. Solange eine Partei nicht einmal testen möchte, ob sie sich über das ‚Ende‘ – d.h. das Bündel ihrer grundlegenden Ziele – in seinen verschiedenen Facetten einig werden kann, fehlt jeder denkbaren Strategie ein fähiger und williger Träger, sie hängt folgenlos in der Luft. Insofern macht sie sich DIE LINKE vielleicht ehrlicher, wenn sie auf Strategiedebatten eher verzichtet.

12.02.2022