Gedankenfragmente und Provokationen zum Ukraine-Krieg
Paul Schäfer
Wir haben Wut, große Wut. Wir verabscheuen Wladimir Putin, der die Welt in die Nähe eines Dritten Weltkrieges führt, der die nicht mehr zu verkraftende Ressourcenverschwendung zu Lasten der ökologischen Weltrettung hochtreibt und all unsere Bemühungen um Frieden und Abrüstung gegen die Wand fährt.
Und wir sind in einer Zerreißprobe, die noch größer erscheint als in den Tagen des Jugoslawienkrieges Ende des letzten Jahrhunderts. Meinungen prallen aufeinander, die nur schwer vereinbar sind. Und ja, wir müssen einiges aushalten: einerseits Forderungen nach Aufrüstung von links; andererseits moralische Appelle, die wiederum anderen als pure Hilflosigkeit erscheinen. Eine Anmerkung sei mir gestattet: Auch wenn es pflichtschuldigst klingt – für die Verbrechen der russischen Staatsführung und den Krieg gibt es keinerlei Entschuldigung. Daher sind für mich auch Kommentare, die uns die Geschichte als „sowas kommt von sowas“ erzählen, schwer zu ertragen. Sie bringen nichts außer der Befriedigung durch den Glauben, Recht gehabt zu haben.
Was jetzt gebraucht wird: Wir müssen kühlen Kopf bewahren. Wir werden auch noch viel Zeit aufbringen müssen, um die gegenwärtige Weltlage zu begreifen. Und dabei müssen wir Offenheit und größtmögliche Toleranz entwickeln. Wer ehrlich ist, wird sagen, dass es verdammt schwierig ist, Handlungsorientierungen für künftige linke Politik zu entwickeln. Kurzfristig kommt dazu, dass wie immer bei kriegerischen Konflikten die Frontverläufe ständig wechseln und die Ergebnisse, wie schon Clausewitz wusste, anders sind, als es die Masters of War vorgesehen haben. Wir werden ad-hoc-Einschätzungen vornehmen und korrigieren müssen.
Eins scheint schon klar zu sein, und das erinnert fatal an 9/11 im Jahr 2001: Wenn heute von Epochenbruch und Zeitenwende und „alles wird anders sein als zuvor“ die Rede ist, dann droht Ungemach: Damals sollten sich alle einreihen in den War on Terror. Sollen wir jetzt alle eingeschworen werden auf die permanente Mobilmachung gegen den äußeren Feind Russland, dem alles untergeordnet werden muss? Die Situation ist indes nicht vergleichbar. Dennoch ist die Warnung sinnvoll, dass wir uns nicht bedingungslos in eine Allparteienfront einreihen sollten. Und an SPD und GRÜNEN gewandt sollte man warnend darauf hinweisen, dass „uneingeschränkte Solidarität“ auch zu Fehlern, Fehlschlüssen und Handlungszwängen führen kann, die man besser vermeiden möchte. Immerhin hat das richtige Nein zum Irak-Krieg auch belegt, dass man sich eigene Entscheidungsfreiheit bewahren sollte. Erschreckend ist in jedem Fall, wie schnell gerade Teile der GRÜNEN auf den Abschreckungs- und Hochrüstungskurs aufgesprungen sind – wie ein Blick auf die Homepage der Heinrich Böll—Stiftung zeigt. Es ist schlicht beängstigend, wie man dort der Logik des Kalten Krieges das Wort redet und die Stories der Hardliner und Rechtsauslegern vom allzu pazifistischen Deutschland aufgegriffen hat, das durch seine Fixierung auf Diplomatie und Dialog Putin erst zu seinem Feldzug ermuntert habe. Glaubt man ernsthaft, einen Despoten wie Putin durch überdimensionierte Waffenarsenale in die Knie zwingen zu können? Und wie leichtfertig wird dort die Gefahr einer nuklearen Konfrontation zugunsten rabiater Menschenrechtspolitik weggewischt! Konsequent für die Menschenrechte eintreten bleibt ein normatives Gebot deutscher Außenpolitik, aber der weise Grundsatz „Respice Finem“ (Bedenkt das Ende) gilt trotzdem.
Wir sollten uns also erlauben, angesichts des viele Parteien übergreifenden Schulterschlusses für eine Politik der Abschreckung und der militärischen Stärke Widerspruch anzumelden. Es tut der LINKEN gut, am Ziel eines gerechten und nachhaltigen Friedens festzuhalten und auch darüber nachzudenken, wie wir dahinkommen, dass künftig Gewaltexzesse von Vorneherein vermieden und möglichst gewaltarm überwunden werden.
Warum haben wir die Lage so falsch eingeschätzt?
Inzwischen sind alle schnell bei der Hand zu sagen, dass sie sich getäuscht hätten. Auch ich habe mich schwer geirrt. Aber dann ist es nicht richtig, schlicht die Erzählungen fortzusetzen, die man schon vor dem Krieg formuliert hat. Denn diese basierten alle auf der Annahme, dass die Putin-Regierung so etwas niemals tun würde. Wie konnte es nur passieren, dass die US-Geheimdienste, deren Nachrichtenwert wir für äußerst gering erachtet und denen wir gerne vorgehalten haben, mit ihren Meldungen Konflikte anheizen zu wollen, die Invasion bis auf den Tag genau (minus 24 Stunden) vorhersagten? Und warum haben selbst mit der Materie vertraute, friedenspolitisch engagierte Wissenschaftler*innen die Möglichkeit des Krieges noch am Vorabend kategorisch verneint?
Ich zum Beispiel räume ein, dass ich die programmatischen Ansprachen Putins oder auch Lawrows, in denen von den „historischen Gebieten“ die Rede war, die man als Einflussbereich reklamieren wolle, eher als Propaganda für das heimische Publikum angesehen habe – eine geistige Mobilmachung quasi, um die eigene Macht zu festigen. Nun hat sich aber herausgestellt, dass Putin und seine Gefolgsleute ihre Botschaften durchaus als echtes außenpolitisches Programm verstehen, das sie bereit sind, mit Waffengewalt und unter Missachtung aller völkerrechtlichen und zivilisatorischen Regeln umzusetzen. Das ist eine völlig neue Lage, auf die wir uns neu einstellen müssen. Nun mag man darüber rätselraten, ob es sich bei dem 2001 im Bundestag gefeierten Putin, dem empörten Putin in München 2007 und dem Putin von 2021 um ein und dieselbe Person handelt. Wir werden aber bei dieser Seelenforschung nicht weit kommen. Ich gehe eher von einer Dialektik von Kämpfen, Konflikten und Kräftekonstellationen aus, die zu dieser Wandlung vom Helden zum Bösewicht geführt hat. In diesem Kontext spielt das teils überhebliche, selbstvergessene Agieren der Atlantischen Allianz und ihrer Mitgliedsstaaten auch eine Rolle. Das Stichwort von der Demütigung des russischen Bären ist nicht einfach falsch. Aber andere Faktoren fallen mir ein, die ich für mindestens ebenso wichtig halte.
Nehmen wir nur als Beispiel die Duma-Wahl 2011, die von heftigen Protesten begleitet waren. Erstmals hatte sich in nennenswertem Umfang eine wirkliche Opposition zu Wort gemeldet, die das Putin-Regime dazu veranlasste, Wahlfälschungen zu begehen und hart gegen jegliche Opposition vorzugehen. Dazu verbündete sich die Putin-Partei mit der extremen Rechten im Lande, die dann konsequent die Rolle des faschistoiden Mobs gegen zivilgesellschaftliche Bewegungen einnahm.
Ein anderes Beispiel: Die Staaten Mittel- und Osteuropas hatten früh begonnen, auf die EU und NATO zu orientieren, und sie hatten Gründe dafür, zu diesen „Clubs“ gehören zu wollen. Im Kreml hat man sich nach dem Konsolidierungskurs unter Putin dazu entschlossen, sich diesen Entwicklungen, die man als Bedrohung des eigenen Herrschaftsbereichs ansah, entgegen zu stemmen. Dazu gehörte – auch wieder im Verbund mit den Rechtsradikalen im eigenen Land –, Verbindungen zum globalen und europäischen Rechtsextremismus (Le Pen, AfD etc.) aufzubauen und diese Kräfte zu fördern, um die „westlichen Institutionen“ zu destabilisieren und zu schwächen. Muss man sich dann wundern, dass auch Putin und seine Getreuen immer weiter nach rechts rückten und Erzählungen über ein Großrussisches Reich als Kulminationspunkt ihres Machterhalts förderten? Über diese Zusammenhänge müssen wir dringend nachdenken und sprechen, bevor wir weiter an monokausalen Erklärungsmustern festhalten, mit denen man zudem schnell in einem Boot mit ultrareaktionären Gewaltverherrlichern wie Roger Köppel (Weltwoche Schweiz / Blocher-Partei) sitzt, die mehr denn je vom Realpolitiker Putin schwärmen.
Zeitenwende? Um welche Zäsur handelt es sich eigentlich?
Die nächste Frage, die wir uns stellen müssen, dreht sich darum, um welche Zäsur es sich denn eigentlich gegenwärtig handelt. Viel wird auf der linken Seite jetzt darüber geschrieben, dass die russische Aggression doch in einer Linie mit Militärinterventionen der USA, der NATO, Frankreichs, der Türkei usw. zu sehen sei. Dies mag mit Blick auf die Verletzungen des Völkerrechts zutreffen. Aber die politische Dramatik der gegenwärtigen Lage wird damit völlig verfehlt. Als 1999 inmitten des Krieges um Kosovo ein russisches Regiment einen Teil des Flughafens in Pristina besetzte, konnte man dies noch als symbolischen Akt „wir sind auch noch da“ einschätzen. Heute stehen wir jedoch am Rande einer militärischen Konfrontation zwischen NATO und Russland, die den Weltfrieden elementar bedroht. Selbst in der Phase des Vietnam-Krieges achteten beide Seiten sehr genau auf Grenzen der Eskalation. Eher ist daher an die Situation während der Kuba-Krise 1961 zu denken, in der es Spitz auf Knopf stand. Reden wir also Klartext: Wir haben es zum ersten Male nach 1939 damit zu tun, dass a) mitten in Europa b) ein großes Land überfallen wird und c) dauerhaft besetzt werden soll. Das erklärte russische Kriegsziel der vermeintlichen „Entmilitarisierung und Entnazifizierung der Ukraine“ läuft darauf hinaus, ein Marionettenregime in Kiew zu etablieren. Und wer seine Sinne zusammen hat, weiß, dass dies nur durch eine stramme Besatzungsmacht aufrechtzuerhalten ist. Putin hat zugleich anderen Staaten, die „sich von der Seite einmischen“, indirekt, aber unmissverständlich mit dem Einsatz von Atomwaffen gedroht („Konsequenzen, die sie noch nie in der Geschichte erlebt haben“). Zur Eskalation hat er auch die strategischen Abschreckungskräfte in Alarmbereitschaft versetzt, zu denen vermutlich die Nuklearwaffen gehören. Finnland wurde massiv bedroht, falls es seine Neutralität aufgäben sollte. Auch die konkreten Umstände des Kriegseintritts, die Missachtung der Vereinten Nationen und der europäischen Emissäre, haben gezeigt, mit welcher Skrupellosigkeit die Führung in Moskau bereit ist, ihre Kriegsziele durchzusetzen. An dieser Dramatik können wir uns nicht vorbeimogeln. Auch die Linke muss sich dieser neuartigen Herausforderung stellen.
Die gegenwärtigen Reaktionen auf den russischen Angriffskrieg im globalen Maßstab verdeutlichen, dass die russische Aggression als fundamentale Bedrohung des Weltfriedens aufgefasst wird. Zum ersten Mal seit vierzig Jahren ist die UN-Generalversammlung mit einer solchen Materie befasst und wird (hoffentlich) den Krieg verurteilen. Das von großen Teilen der Staatenwelt auf den Weg gebrachte Sanktionspaket ist in dieser Form beispiellos. Und selbst neutrale Staaten wie die Schweiz, die sich ansonsten zurückhalten, sind dabei. Die Türkei versperrt russischen Kriegsschiffen die Passage zwischen Schwarzem Meer und Mittelmeer. Die Isolation Russlands, siehe etwa das Agieren der Sportverbände, der IT-Konzerne und vielen Anderen, ist ebenso einzigartig. Das kann man schwerlich als vom Westen inszenierte hysterische Überreaktion abtun. Hier drückt sich die fundamentale Besorgnis aus, dass Russland die Welt in den Abgrund eines nuklearen Infernos ziehen könnte. Daher gibt es eine riesige Solidaritätswelle mit der Ukraine und ein weltweites Engagement für den bedingungslosen Truppenabzug Russlands. Auch eine emanzipatorische Linke muss hier ohne Wenn und Aber (!) aktiv dabei sein.
Es geht nicht um Sicherheitsinteressen, sondern um imperiale Regime-Interessen
Kommen wir noch einmal zu der erklärungsbedürftigen Frage nach den Gründen der russischen Aggression und den Kriegszielen des Kremls. Die von Moskau aufgebrachte Geschichte lautet, dass es um elementare Sicherheitsinteressen gehe. Die sog. Putin-Versteher haben diese Erzählung nimmermüde kolportiert. Ich halte diesen Erklärungsansatz inzwischen für falsch. Nicht dass diese Frage überhaupt keine Rolle gespielt hätte – die Kritik an der die russischen Sicherheitsinteressen missachtenden NATO-Osterweiterung war und ist berechtigt. Der erfahrene US-Diplomat George Kennan hat Mitte der neunziger Jahre mit seiner düsteren Prognose, die Osterweiterung würde in Russland nationalistische und militaristische Tendenzen begünstigen, völlig Recht gehabt. Diese Politik hat dazu beigetragen, dass wir heute an diesem dramatischen Punkt sind. Ich mache gegen die These von den Sicherheitsinteressen allerdings zwei Punkte geltend:
Erstens: Wenn wir eine unvoreingenommene militärische Bedrohungsanalyse vornehmen würden, kämen wir zu folgendem Ergebnis (und da billige ich mir als jemand, der sich seit vierzig Jahren mit Sicherheitsfragen befasst, einigen Sachverstand zu): Russland ist nicht existentiell bedroht. Schon allein dadurch, dass niemand die Absicht hat, in Russland militärisch einzufallen. Auch die Generalität und die politische Führung in Moskau wissen das. Und selbst ein NATO-Beitritt der Ukraine, der den Aufbau zusätzlicher militärischer Infrastruktur nach sich ziehen würde, bedroht Russland nicht existenziell. Ob es uns gefällt oder nicht, die Rückversicherung Russlands liegt in seinem nuklearen Waffenpotenzial, genauer: in der Sicherung seiner Zweitschlagsfähigkeit. Daher sind alle Fragen der Raketenabwehr für Moskau von elementarer Bedeutung. Und der Protest gegen das US-SDI-Programm und die Aufkündigung des ABM-Vertrages durch die USA sind vollauf berechtigt. Die Sorgen angesichts der US-Ankündigung, solche Abwehrsysteme auch in Rumänien oder Polen zu stationieren, sind durchaus nachzuvollziehen. Aber dafür fängt man keinen Krieg in der Ukraine an, sondern forciert Rüstungskontroll- und Abrüstungsverhandlungen und wendet sich an die Weltöffentlichkeit. Und nur am Rande: Auch „militärstrategisch“ hätte die Russische Föderation Möglichkeiten, auf ein als bedrohlich empfundenes Szenario zu reagieren. Der Hinweis auf Seestreitkräfte soll an dieser Stelle genügen.
Zweitens: Die militärischen Einmischungen Russlands in Belarus und Kasachstan in jüngerer Zeit haben besonders sinnfällig gemacht, dass es dem Kreml weniger um Sicherheitsinteressen geht. Nota bene: Der Ausgangspunkt des gewaltförmigen Streits um die Ukraine war nicht der Beitritt des Landes zur NATO; der war 2014 auf Eis gelegt. Es ging um das „Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union“! Dass sich die nach dem Maidan-Aufstand ins Amt gekommene ukrainische Führung für die EU entscheiden wollte, hat die Annexion der Krim und die militärisch abgestützte Separation im Donbass ausgelöst. Es geht, so meine These, um „Regimeinteressen“. In dieser Hinsicht muss das verbal geäußerte Programm Putins endlich ernst genommen werden. Es läuft darauf hinaus, ein postsowjetisches Imperium zu errichten, das Moskau maßgeblichen Einfluss zumindest in Belarus, der Ukraine und in Kasachstan sichert. Was dies für die Kaukasus-Region und die zentralasiatischen Länder bedeutet, ist unklar. Dass sich dieser Politikentwurf in einer großen historischen Linie des russischen Zarenreichs sieht, ist allzu deutlich. Und wenn in diesem Kontext von Pufferzonen die Rede ist, die Russlands zu seiner Sicherheit benötige, so sollte dies eher in einem machtpolitischen Sinne verstanden werden. Sollten sich in den unmittelbaren Nachbarländern freiheitlich-demokratische Reformen durchsetzen, so hält man die Gefährdungen für das eigene autokratische System für zu groß, um das tolerieren zu können. Daher hat das Putin-Regime so energisch auf die Krisen in Belarus und Kasachstan reagiert.
Was unterscheidet die Lage in den sechziger Jahren von der Gegenwart?
Wenn es um Reaktionen auf diese bedrohliche Entwicklung geht, finde ich Kommentare, die auf die sozialdemokratisch geführte Entspannungspolitik der 70er Jahre verweisen. Schließlich hätten Brandt und Bahr trotz Mauerbau und CSSR-Einmarsch 1968 die Neue Ostpolitik eingeleitet, mit der auf Entspannung und Dialog statt Konfrontation gesetzt worden sei. Mir scheint dieser Hinweis in die Irre zu führen. Damals hatten wir es mit dem festgefügten sowjetischen Imperium zu tun, das zunächst nach dem Ersten Weltkrieg entstanden war, im Ergebnis der Niederlage des Hitler-Faschismus im Zweiten Weltkrieges erweitert wurde und daraus eine „gewisse“ Legitimation zog. Mit der Ostpolitik sollte eine Konsequenz daraus gezogen werden, dass ein Atomkrieg niemals gewinnbar und daher nicht führbar sei. Die Gefahr nuklearer Eskalation sollte gebannt werden. Mit der Politik einer Anerkennung des Status quo sollte Vertrauen zwischen West und Ost gebildet werden, um auf dieser Grundlage über Abrüstung und Rüstungskontrolle zu reden. Der Eiserne Vorhang sollte durchlässig gemacht werden. Das war ein humanitäres Anliegen mit dem offen formulierten Ziel, damit Spielräume für demokratische Prozesse zu vergrößern. Heute geht es jedoch Russland darum, ein postsowjetisches Regime wieder zu errichten, mit dem erreichten demokratischen Spielräumen in den Nachbarländern (wie immer man das dortige Oligarchentum, die Korruption etc. beurteilen mag) der Garaus gemacht werden soll. Damit wird zugleich ein substanzieller Grundsatz der Charta der Vereinten Nationen, das Selbstbestimmungsrecht der Nationen, komplett ausgehebelt. Dieser Grundsatz wiederum ist die Basis für ein friedliches Zusammenleben der Völker und Staaten. Die „alte“ Sowjetunion hat diese Grundsätze zumindest verbal anerkannt und gewaltsame Drohungen, den Status quo zu verändern, weitestgehend unterlassen (und auch nie mit dem Einsatz von Atomwaffen gedroht). Diese Unterschiede sollten wir schon beachten. Auf diese neuartige und extrem bedrohliche Situation brauchen wir eine Antwort. Der bloße Hinweis auf Dialog und De-Eskalation hilft nicht wirklich weiter. Andererseits (siehe oben), bleibt es eine Frage der Vernunft, angesichts der nuklearen Konfrontationsgefahr, alles zu vermeiden, was uns dem Abgrund näher bringt. Und daher sind auch die Überlegungen Egon Bahrs und Willy Brandts zur Gemeinsamen Sicherheit in Europa, zu einer konsequenten Rüstungskontroll- und Abrüstungspolitik nicht Schnee von gestern, sondern bleiben aktuell.
Die Revision linker Geschichtsbilder ist unvermeidlich
Die Ukraine-Krise sollte auch Anlass sein, über Geschichtslegenden kritischer nachzudenken, die große Teile der Linken seit Jahrzehnten mit sich herumschleppen. Die prominente Sahra Wagenknecht hat dafür auf ihrem aktuellen Podcast eine Blaupause geliefert, wie poststalinistische Rechtfertigungslegenden aufgebaut werden. Ihr Plädoyer für eine russlandfreundliche Politik begründet sie aus der Geschichte heraus: Russland sei immer wieder „vom Westen“ angegriffen worden, und dies habe sich in das kollektive Gedächtnis der Russen eingegraben. Letzteres hat gewiss viel Richtiges. Knapp wird eingeräumt, dass es auch „phasenweise Dominanz“ Russlands im Rahmen des Warschauer Vertrages gegeben habe. Wie bitte, nur „Dominanz“? In Wagenknechts Weltbild kommen die rollenden Panzer in Ost-Berlin 1953, in Budapest 1956 und Prag 1968 offenbar nicht vor. Und seien wir ehrlich, viele von uns haben diese Interventionen auch viel zu lange als bedauerliche Notwendigkeit rubriziert, der Konterrevolution begegnen zu müssen. Noch heute gehört es zur Erzählung der linken Orthodoxie, dass das Geheimabkommen zum Hitler-Stalin-Pakt ein Akt schierer Verteidigung gewesen sei, um Zeit und eine Pufferzone in Gestalt eroberten Landes in Polen zu gewinnen. Katyn? Bedauerlich, aber einfach dem Furor des Krieges geschuldet. Dass es dabei um die vorsätzliche und systematische „Liquidierung“ der polnischen Führungselite ging, um den Pufferstaat Polen in unseliger russischer Tradition vom Erdball zu tilgen, wollten wir nicht wahrhaben. Noch heute drücken sich manche um diese bittere Erkenntnis. Mit anderen Worten, die grundlegende Besorgnis der osteuropäischen Länder und ihrer Völker spielt bei uns bis heute eine vernachlässigte Rolle. Aber es ist der russische Imperialismus, der sich in deren kollektives Gedächtnis eingegraben hat (wie auch in Finnland, das schließlich auch überfallen wurde). Was ich damit sagen will: Wir müssen einige unsere gängigen historischen Narrative auf den Prüfstand stellen und revidieren.
Appeasement oder demokratischer Widerstand?
Wenn es darum geht, was in der jetzigen Lage zu tun ist, ist der Vorwurf der sicherheitspolitischen Falken an Linke und Friedensbewegung schnell ausgesprochen: Appeasement-Politik. Ich finde, dass Vergleiche zur Appeasement-Politik mit größter Vorsicht zu genießen sind. Dabei geht es weniger um die Unterscheidung zwischen Hitler und Putin, die gleichwohl gemacht werden muss (das Nazireich wollte die Weltherrschaft …), als darum, dass es heute andere Möglichkeiten internationaler Einflussnahme gibt und selbst unter quasi kriegsrechtlichen Regelungen in Russland Friedensaktionen stattfinden. Auch die Gesamtheit der wirtschaftlichen Verflechtungen gehört dazu. Und last not least die pure Notwendigkeit der globalen Kooperation, um das Weltklima zu retten, an der auch und gerade in der „neuen Zeit“ festgehalten werden muss!
In einem Punkt aber gilt es schon Klarheit herzustellen: Es reicht nicht nur, „Solidarität mit der Ukraine“ zu postulieren. Diese Solidarität sollte auch bedeuten, der Ukraine das in der UN-Charta Artikel 51 verbriefte Selbstverteidigungsrecht einzuräumen. Ob dazu Waffenlieferungen hilfreich und unumgänglich sind, ist sehr sorgfältig abzuwägen. Nützt es kurzfristig etwas? Wird damit nicht der Leid verursachende Krieg verlängert? Wäre es nicht sinnvoller, sich auf den zivilen Widerstand gegen die Besatzung vorzubereiten? Andererseits: Gehört die mittelbare militärische Hilfe nicht zu dem Arsenal an Maßnahmen, mit dem der Preis für die russische Aggression möglichst hochgetrieben werden soll?
Und was ist mit Sanktionen? Ich bin auch diesbezüglich lange Zeit äußerst skeptisch gewesen. Konten der Machthabenden einfrieren, Waffenembargos, dies schien mir völlig OK, aber weitergehende Beschränkungen wollte ich nicht in Betracht ziehen. Die Erfahrung mit der Embargo-Politik gegenüber dem Apartheid-Regime in Südafrika habe ich für singulär gehalten. Obwohl man bei näherer Betrachtung darauf kommt, dass ein Punkt im Ukraine-Konflikt vergleichbar wäre: Die Unterdrückten wären überwiegend mit einer solchen Maßnahme einverstanden, weil sie sich davon ein Ende des Besatzungsregimes erhoffen, und sie wären auch bereit, dafür Einschränkungen hinzunehmen. Jetzt denke ich darüber nach, inwieweit einige Standard-Argumente gegen Sanktionen noch gelten oder neu bewertet werden müssen. Vor allem gilt, wenn ich richtig liege, dass es ein Sanktionspaket wie jetzt beschlossen in dieser Form noch nie gegeben hat (und dass es selbst die extrem restriktiven Regelungen zwischen West und Ost im Kalten Krieg deutlich überragt). Am ehesten kann die brutale Embargopolitik gegenüber dem Irak und dem Iran vergleichsweise herangezogen werden, aber die jetzt auf den Weg gebrachten Sanktionen gehen selbst darüber weit hinaus. Nun gilt eins, was man in diesen Tagen schon sehen konnte: Das gerne bemühte Argument, Sanktionen wirkten nur langfristig, ist schlicht falsch. Richtig bleibt, dass die Abschnürung Russlands von der globalen wirtschaftlichen, handels- und technologiepolitischen Kooperation die Bevölkerung des Landes empfindlich treffen wird. Daher wird es extrem wichtig sein, wenn man zu diesem Instrument greift, immer wieder zu verdeutlichen, dass sich diese Maßnahmen nicht gegen das russische Volk, sondern gegen die Machthabenden richten. Alternative Handlungsoptionen sehe ich derzeit nicht.
Die friedensbewegte Forderung nach Waffenstillstand und Friedensverhandlungen ist richtig. Aber ein Appell allein kann die Wende nicht bringen, auch wenn er – und daran arbeiten wir ja – millionenfach erhoben wird. Wenn man nicht daran glaubt, dass aus dem Saulus Putin ein Paulus Putin wird, und davon ausgehen muss, dass er sein unmittelbares Kriegsziel der Besetzung Kiews erreichen wird, dann sollte man sehr genau analysieren, unter welchen Bedingungen überhaupt Friedensverhandlungen werden stattfinden können. Verhandlungen, während ein Krieg in vollem Gang ist, sind erfahrungsgemäß kaum aussichtsreich und werden eher als Nebelvorhang missbraucht. Ein Waffenstillstand, der auf die Kapitulation der Unterlegenen hinausläuft, ist auch keine Chance für einen stabilen Frieden. Weder die sicherheitspolitische „Finnlandisierung“ der Ukraine (die noch vor einiger Zeit klug gewesen wäre) noch das kategorische Verbot, sich der EU anzuschließen, werden von der Ukraine auf Dauer akzeptiert werden können und laufen auf einen Unterwerfungsfrieden hinaus, den auch wir schwerlich für akzeptabel halten. Kompromisse werden sich im Rahmen des Minsker Abkommens bewegen müssen. Ein solcher Ausweg scheint mit dem Kriegsherren Putin nur äußerst schwer vorstellbar. Ist daher die Logik, die – sehr prominent – EU-„Chefin“ von der Leyen bemüht, nicht konsequent? Der Preis, den das Putin-Regime für seine Aggression zu zahlen hat, muss so hoch wie möglich getrieben werden und die Vorteile der Besatzung überwiegen. Um diese Frage wird man sich nicht durch allgemeine Formeln wie „Sanktionen gegen die Oligarchen“ und „keine Sanktionen zu Lasten der arbeitenden Bevölkerung“ vorbeidrücken können.
Um zugleich zu vermeiden, dass Russland so in die Enge getrieben wird, dass völlig irrationale Verhaltensweisen nicht auszuschließen sind, gilt es Gesprächskanäle offenzuhalten. Solange gekämpft wird, braucht man „back channels“, Sondierungen auf neutralem Territorium, später Diplomatie auf allen Ebenen. Und man wird immer wieder bedenken müssen, dass man ggf. auch mit Teilen der jetzigen russischen Führung Auswege suchen muss.
Ein paar erste Vorschläge für linke Politik
Welche Positionen sollten wir als Linke in dieser verdammt komplizierten Lage einnehmen? Wer hier auf ein „Weiter So“ setzt, wird untergehen. Daher geht es um gemeinsames Nachdenken, wie man auf die neuen Herausforderungen flexibel und doch im Rahmen eigener Vorsätze reagieren sollte. Zugegeben sind manche meiner Überlegungen provokativ. Ich bin auch gerne bereit, neu nachzudenken. Doch dazu müssten plausible Alternativen auf den Tisch kommen. Und die Debatte werden wir ohne Tabus führen müssen.
Eins bleibt für mich obenan: Die politische Mobilisierung zur Delegitimierung des Putin-Regimes und seines verbrecherischen Krieges ist entscheidend. Mit dieser Friedenskampagne gilt es auch die russische Bevölkerung zu erreichen. Denn es geht zumindest mittelfristig um einen Regime Change in Russland, aber von innen heraus. Eine internationale Friedensbewegung muss daher auch und nicht zuletzt auf die Solidarität mit den Widerstandsaktiven in Russland gerichtet sein. Dieser Aspekt sollte bei allen Aktionen und Handlungen immer mit bedacht werden. Als die Kölner Oberbürgermeisterin auf der Kölner Rosenmontagsdemo die Solidarität mit den Friedensaktiven in Russland bekundete, gab es den mit Abstand stärksten Beifall der Kundgebung. Genauso ist es richtig. Verbindungen zu zivilgesellschaftlichen Friedensgruppen zu halten und auszubauen, wird immer wichtiger werden.
Wir sollten uns nicht abhalten lassen, alle ad-hoc-Maßnahmen immer wieder mit grundsätzlichen Perspektiven eines stabilen Friedens in Europa zu verknüpfen. Durch dieses ceterum censeo sollten wir uns von der auf Abschreckung und Stärke gerichteten Mobilmachung absetzen und vernunft- und dialoggeleitete Lösungsvorschläge einbringen.
Das pauschale 100 Milliarden- Aufrüstungsprogramm sollten wir sehr grundsätzlich in Frage stellen. Welchen Sinn soll es haben, aus der NATO-Überlegenheit, sagen wir 4:1, eine Dominanz 5:1 zu machen? Andererseits dürfte es sehr schwer sein, sich nachprüfbaren Defiziten in der Bundeswehr-Ausrüstung, die defensiven Charakter haben, zu widersetzen. Beispiel: Luftabwehr. Man fragt sich auch als Insider schon, wo das ganze Geld bleibt, das die Bundeswehr Jahr für Jahr verbrennt, und sagen daher Nein zu pauschalen Aufstockungen auf mehr als 2% etc. Wir sollten stattdessen auf Rationalisierungs- und Einspareffekte im europäischen Verbund drängen, denn wenn nur „No“ sagen, werden wir auf verlorenem Posten sein. Aber damit wird an ein bisheriges Tabu des LINKEN-Programms gerührt (keine Euro-Armee), das ich für nicht länger haltbar ansehe.
Wenn es möglich ist, ein 100 Mrd. Euro schweres Programm für die Rüstung aufzulegen, warum nicht ein ebensolches für die sozialökologische Transformation? Das wird innenpolitisch einer der wichtigsten Zankäpfel sein, und hier sollte sich die LINKE mit eigenen Vorschlägen (Vermögensabgabe) einmischen.
Noch einmal: Es ist nicht sehr klug, sich dem pauschalen Aufrüstungsdrang anzuschließen. Für klüger halte ich es, die Debatte aus der Endphase der „Systemkonfrontation“ in den 80er-Jahren wieder aufzugreifen und neu zu entwickeln: Es ging damals um die sog. Strukturelle Nichtangriffsfähigkeit der Streitkräfte. Die LINKE hat dies auch programmatisch aufgegriffen. Dass es bei modernem Kriegsgerät sehr schwierig ist, zwischen Offensiv- und Defensivwaffen zu unterscheiden, ist wahr, aber dennoch gibt es unterschiedliche Optionen, die ggf. wichtig sein könnten. Das kleine Finnland etwa hat sehr wenig Panzer, mit denen man eine raumgreifende Offensive durchführen könnte, aber eine verdammt schlagkräftige Artillerie. Um dies konzeptionell zu entwickeln, wird man um militärischen Sachverstand nicht herumkommen. Ich fürchte, dass der LINKEN in ihrer heutigen Verfassung die dafür nötige Expertise fehlt. Bzw. sind die dafür benötigen Kontakte schlicht nicht vorhanden.
Wir müssen einem Befund in die Augen blicken: Eine LINKE, die sich Überlegungen zur Militärpolitik und einer Effizienzsteigerung der militärischen Ausrüstung (z.B. bei der Luftabwehr) angesichts der skrupellosen Drohungen aus Russland Rüstungsbemühungen pauschal entgegenstellt, wird wahrscheinlich nicht nur für den Augenblick kein ernsthafter Faktor mehr sein. Noch einmal: Der Vorwurf einer Appeasement-Politik, die Aggressoren Vorschub leistet, wirkt schwer. Berechtigt daran ist der Bezug auf das historische Versagen der westlichen Staaten, die mit dem Münchner Abkommen 1938 die Gier der Nazis nach mehr Eroberungen weiter angeheizt haben. Diesem Vorwurf ausweichen zu wollen, indem wir jetzt Ja und Amen zur Politikwende der Ampel-Koalition und einem dramatischen Rüstungskurs sagen, halte ich aber für falsch und fatal. Zu widerstehen und kluge eigene Vorschläge zu machen, wie man langfristig und nachhaltig Frieden in Europa sichern könnte, ist da entschieden besser.
Köln, 01.03.2022